Im Januar schien es für alle Kaderplaner der Bundesliga oberste Maxime zu sein, von irgendwoher einen Japaner zu verpflichten. Alleine der Hype um Shinji Kagawa schien seine Landsleute Shinji Okazaki (zum VfB), Hajime Hosogai (Leverkusen) und Tomoaki Makino (Köln) nach Deutschland gespült zu haben. Nachdem Japan im Januar diesen Jahres den Asien-Cup gewonnen hatte, waren sie den Herren Hasebe, Yano, Uchida und Kagawa in die Bundesliga gefolgt.
Zum besten Spieler dieses Turniers wurde allerdings einer ihrer Mannschaftskollegen gewählt, ein 24-Jähriger, der zwei Jahre lang völlig unbeachtet im Vorhof der Bundesliga auf Torejagd ging: In der niederländischen Eredivisie. Spätestens seit der WM 2010 kennt jedes Kind in Japan Keisuke Honda. Er erzielte in Südafrika zwei Tore für „Nippon“ und wurde zum Superstar. Ein halbes Jahr vorher kickte er noch bei dem kleinen Verein VVV-Venlo, nur einen Steinwurf entfernt von der niederländisch-deutschen Grenze. Sein Verkauf sicherte dem Klub den Etat nahezu einer ganzen Saison.
Sechs Millionen +X für Honda
Während Honda mit seinem 30-Meter-Freistoß zum 1:0 gegen Dänemark am letzten Vorrunden-Spieltag Japans Anhänger in Ekstase versetzte, schwankte die Gefühlslage in der niederländischen Provinz Limburg zwischen Wehmut und Stolz. Robert Pinior lässt keinen Zweifel aufkommen: „Honda ist der beste Spieler, der jemals seine Schuhe für Venlo geschnürt hat.“ Der 25-jährige Mönchengladbacher studiert BWL an der Universität in Düsseldorf und ist „Deutschland-Verantwortlicher“ der Grenzstädter. Betriebswirtschaftlich war der Verkauf Hondas an ZSKA Moskau vor 13 Monaten eine Entscheidung ohne Alternative.
„Keizer Keisuke“, gerade 22 Jahre geworden, hatte Venlo 2008/09 mit 30 Scorerpunkten in 36 Spielen nach nur einer Zweitliga-Saison wieder in die Eredivisie zurück geschossen. Als er in den ersten acht Erstliga-Spielen sieben Tore folgen ließ, klopfte plötzlich der Hochadel an. Honda war dem VVV endgültig entwachsen: Abgesandte aus Liverpool, Chelsea und Arsenal fanden sich im Stadion „De Koel“ 700 Meter hinter der Grenze ein, aus der Bundesliga hatten angeblich der 1. FC Köln und der VfL Wolfsburg Interesse.
Schließlich war es ZSKA Moskau, jener aus der Portokasse Roman Abramowitschs aufgehübschter Armeesportklub, der Venlos Kaiser im Januar 2010 aus seinem Vertrag bei VVV auslöste. Für sechs Millionen Euro plus weiterer Zahlungen im Erfolgsfall und einer Beteiligung bei einem Weiterverkauf des Japaners – für einen Klub, der in der vergangenen Saison mit einem Etat von acht Millionen kalkulierte, nicht weniger als eine finanzielle Revolution.
„De Koel“ ist bald Geschichte
Was für den kleinen Verein ein Quantensprung darstellt, ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein des Aufholbedarfs. 14 Jahre permanenter Zweitklassigkeit bis 2007 und ein weiterer Abstieg danach haben einen strukturell bedingten Wettbewerbsnachteil gegenüber Vereinen wie AZ Alkmaar, Twente Enschede, Heerenveen oder dem großen Rivalen Roda Kerkrade geschaffen, der nur schwer aufzuholen ist. Finanziell spielen diese Klubs dank regelmäßiger Europapokalteilnahmen in einer anderen Liga.
Hinzu kommt das heimelige, immer ausverkaufte, aber den Anforderungen des modernen Fußballs nicht gewachsene Stadion. Mit seiner Kapazität von 8000 Zuschauern wirkt das „De Koel“ wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Ein infrastruktureller Nachteil, der ab der Saison 2013/14 Stück für Stück abgebaut werden soll. Dann soll im Herzen der 100.000-Einwohner-Stadt, direkt am Flüsschen Maas eine Multifunktionsarena fertig gestellt sein, in der 17.500 Zuschauer, also mehr als doppelt so viele Zuschauer wie bisher, die Spiele von VVV verfolgen können. Noch muss der Rat der Stadt die Finanzierung der wohl rund 40 Millionen Euro teuren Arena abnicken. Geschieht das wie geplant im April, sollen nach Ausschreibeverfahren und Vergabe ab Anfang 2012 die Bagger rollen.
Die Verantwortlichen um Hai Berden, Vereinspräsident und Gründer des als Haupt- und Trikotsponsor fungierenden Logistikunternehmens „Seacon“, hoffen, dass dann durchschnittlich mindestens 1000 Fußballfans aus Deutschland die Spiele besuchen werden. Dafür soll auch Robert Pinior sorgen, er hat ein Büro in den Räumlichkeiten der Stadionbaugesellschaft MFC deKazerne. Im letzten Jahr startete er eine Umfrage bei Fußballspielen in der Grenzregion. Von 1000 Befragten gaben knapp ein Drittel an, generell Interesse an VVV zu haben. „Im Moment kommen ungefähr 300 Zuschauer pro Spiel aus Deutschland ins De Koel, 150 von ihnen haben eine Dauerkarte. Auf der deutschen Seite der Grenze gibt es Zehntausende potentieller Fußball-Fans. Wir hätten schon viel erreicht, wenn wir nur eine Handvoll dieser Leute für unseren Verein gewinnen könnten“, sagt er.
Auch Reiner Calmund schaut vorbei
VVV-Venlo will sich in der holländisch-deutschen Grenzregion als Alternative zu den deutschen Bundes- und Zweitligisten Gladbach, Aachen, Düsseldorf oder Köln einen Namen machen, auch bei mittelständischen Unternehmen. Immerhin fünf deutsche Sponsoren engagieren sich bei VVV, unter ihnen eine Groß-Wäscherei aus Mönchengladbach. Kurz nach dem Klassenerhalt im letzten April organisierte der Verein einen deutsch-niederländischen Business-Abend mit Tausendsassa und Kosmopolit Reiner Calmund. Immerhin 150 Geschäftsleute aus der Region folgten der Einladung.
VVV-Venlo ist auf einem guten Weg, sich zu einem finanziell wettbewerbsfähigen Verein zu entwickeln. Durch das zugige „De Koel“ allerdings geistert seit Monaten das Schreckensgespenst Jupiler League, Hollands zweiter Liga – ein unbedingt zu vermeidendes Szenario. Denn nach des Kaisers Absprung ging es sportlich peu a peu abwärts für die Grenzstädter. Zwar stand im Sommer als Zwölfter der souveräne Klassenerhalt, in 28 Spielen der aktuellen Spielzeit beträgt die Punkteausbeute aber nur 17 Punkte. Am vergangenen Spieltag festigte VVV mit einem 0:0 zu Hause gegen den Letzten Willem II Tilburg immerhin den 17. und vorletzen Platz mit fünf Punkten Vorsprung auf das Schlusslicht – und damit auf den einen direkten Abstiegsplatz.
Das Zitterspiel Relegation
Venlo und Excelsior Rotterdam (22 Punkte) werden Vitesse Arnheim, das mit 29 Punkten auf dem rettenden 15. Platz steht, in den sechs noch ausstehenden Spielen nicht mehr einholen. Was dann auf die beiden Eredivisionäre wartet, ist mit dem Bundesliga-Begriff Relegation nur unzureichend beschrieben. Um in der komplizierten „Nacompetitie“ zu bestehen, muss VVV gleich zwei Duelle – jeweils mit Hin- und Rückspiel – gegen Zweitligisten gewinnen. Zunächst muss sich Venlo gegen einen von vier „Periodenmeistern“ (eine Periode = acht Spieltage) durchsetzen. Gelingt das, wartet eine Mannschaft, die die Jupiler League-Saison auf den Plätzen zwei bis fünf abgeschlossen hat. Das ist so, als müsste der VfB Stuttgart, um in der Bundesliga zu bleiben, erst Energie Cottbus bezwingen und dann noch den VfL Bochum.