Es sind tausende Anhänger in den Hafen von Buenos Aires gekommen. Sie säumen den Pier, lüften Mützen und Hüte, schwenken weiße Taschentücher und schicken so ein Schiff auf die Reise. Es ist der Dampfer „Formosa“, an Bord sind siebzehn Spieler des Fußballklubs „Club Atlético Boca Juniors“, das Reiseziel des Schiffs ist Spanien, und wir schreiben den 4. Februar des Jahres 1925.
Es ist eine abenteuerliche Reise, die die Amateursportler aus Buenos Aires antreten, denn auch die Kapitäne wissen nicht genau zu sagen, wann das Schiff den Alten Kontinent erreichen wird. 20 Tage, vielleicht auch länger, wird es dauern. Dennoch hat keiner der Spieler gezögert, als Teilnehmer für die erste Reise einer argentinischen Mannschaft nach Europa gesucht werden, organisiert von drei spanischen Diplomaten, um den Menschen in Deutschland, Spanien und Frankreich die argentinische Spielkunst zu präsentieren.
Im Bauch des Schiffes: ein behelfsmäßiges Schwimmbad
Noch lange stehen die Spieler gerührt an der Reling und sehen ihre Stadt und die Menschen langsam am Horizont verschwinden. „Diese Reise ist wichtig. Zeigt ihnen, was argentinischer Fußball bedeutet“, haben ihnen die Anhänger mit auf den Weg gegeben, und wie sie so dastehen, der Charismatiker Alfredo Garasini, Torwart Tesorieri und die anderen Abenteurer, da schwören sie sich, alles dafür zu tun, dass die Reise ein Erfolg wird. Doch als die Spieler ihre Kabinen beziehen und die Decks inspizieren, sind die meisten ein wenig ernüchtert. Denn der Dampfer ist ein normales Passagier- und Frachtschiff, keineswegs geeignet, um eine Gruppe von Sportlern drei Wochen lang fit zu halten. Die Kabinen sind eng, es gibt keine Übungsräume, kein Schwimmbad, überhaupt wenig von dem, was die Boca- Spieler aus Buenos Aires gewöhnt sind.
Also wird improvisiert, im Bauch des Schiffes wird ein behelfsmäßiges Schwimmbad eingerichtet, die Gymnastik wird auf dem Oberdeck ausgeführt, das Balltraining muss in den Wochen der Überfahrt ausfallen. Was die Spieler allerdings nicht wirklich bekümmert, weil sie sich schnell ins Schiffsleben einfinden. Wenn sie keine Gymnastik machen, sitzen sie an Deck und spielen Karten, manch einer hält einen Plausch mit dem einzigen Journalisten, Hugo Marini, der für „Diario Crítico“ mitgefahren ist. Und noch einer ist dabei, der längst ein Freund der Spieler geworden ist: Eduardo Toto Caffarena, ein wohlhabender Notar und der wohl größte Boca-Fan. Er hat sich die teure Passage nach Europa aus eigener Tasche geleistet, weil er die Mannschaft überallhin begleiten will. Es ist nicht seine erste Reise mit Boca, aber so weit hinaus ist er mit der Mannschaft noch nie gefahren. Anerkennend nennen die Spieler ihn, der nicht besser Fußball spielen kann als jeder Gossenjunge, den „Spieler Nummer 12“. Einen Spitznamen, den noch heute die größte Fangruppe Bocas trägt. Sein Sohn Augustín ist noch heute stolz auf seinen Vater. „Mein Vater war ein sehr besonderer Mensch und ein leidenschaftlicher Fan von Boca“, erzählt er uns. „Als er gefragt wurde, ob er mitfahren will, hat er nicht einen Moment lang ans Geld gedacht!“
Mit dem tiefen Geläuf kommen die Argentinier nicht zurecht
Am 27. Februar erreicht das Schiff Spanien, und am 5. Märzspielt Bocas Europa-Auswahl ein erstes Freundschaftsspiel gegen Celta de Vigo. Das Stadion ist ausverkauft, und staunend schaut das Publikum den argentinischen Ballzauberern zu. Sie dominieren Celta klar, am Ende steht es 3:1 für die Reisegruppe aus Übersee. Das Echo der Medien für die Heimmannschaft ist verheerend, eine Revanche wird gefordert, und drei Tage später treten die beiden Teams noch einmal gegeneinander an. Doch die Spanier haben sich diesmal besser vorbereitet, kurz vor dem Spiel wässern sie den Rasen ausgiebig, mit dem tiefen Geläuf kommen die Argentinier nicht zurecht.
„Unsere Fußballstiefel versanken, und so revanchierten sie sich ebenfalls mit einem 3:1“, erzählten die Spieler nach der Rückkehr. Doch die Überlegenheit des argentinischen Fußballs, sie wird auf der Tournee durch Europa noch zur Geltung kommen. Denn bis zum 3. Mai schlägt Boca nicht nur Real Madrid unter den Augen von König Alfonso XIII, sondern auch La Coruña, Atlético Madrid und Espanyol Barcelona, nur gegen Bilbao und Real Irún verlieren sie. Es sind umjubelte Gastspiele, und das Ziel der Reise, Werbung für den argentinischen Fußball zu machen, ist längst erreicht.
Auch daheim in Buenos Aires hat man unterdessen von den Siegen gehört. Im Stadtteil „La Boca“ trifft man sich in einem Stammcafé namens „Las Camelias“ und hört dort von den Spielen über das Radio. Und man studiert die Telegramme, die Journalist Hugo Marini an „Diario Crítico“ schickt. In diesen Telegrammen ist viel von der Begeisterung zu lesen, mit der die südamerikanischen Spieler bei ihrer Tournee empfangen werden. Nichts hingegen ist zu lesen von den Finanzproblemen der Mannschaft. Denn das Geld reicht hinten und vorne nicht für die Delegation, nicht einmal für das Essen und die Nächte in einfachen Landhotels. Und alle 19 Spiele bestreiten die Spieler in ein und demselben Trikot, einen Wechselsatz gibt es nicht. Die spanischen Diplomaten haben sich schlicht verkalkuliert. Doch die argentinischen Spieler wollen nicht klagen, sie handeln.
Zigarettenstummel als Erkennungszeichen vor den Bars
Und so wird sich das Aushängeschild des argentinischen Fußballs, Alfredo Garasini, in München an eine Ecke stellen und die Passanten zu Kartenspielen verführen, um etwas Geld für die Mannschaftskasse zu sammeln. Den Fußgängern wird der sympathische Plauderer gefallen und die Mütze Garasini sich rasch füllen. Doch vor allem wird auch in Deutschland Fußball gespielt, und das Spiel gegen Bayern München im Grünwalder Stadion wird zu einem Höhepunkt der Tournee. Am Ende steht es nach einem Kampfspiel unentschieden 1:1, aber die erfrischende und moderne Spielweise hat Boca Juniors viele Sympathien eingebracht.
Und auch den Spielern gefällt München, die Bars in den Amüsiervierteln der bayerischen Metropole werden von ihnen mehr als einmal besucht. Und damit man sich nicht aus den Augen verliert, haben sich die Boca-Spieler einen Trick ausgedacht. Sie werfen Zigarettenstummel auf den Boden vor den Bars, in die sie eingekehrt sind. „Deutschland war so sauber, das hat außer uns niemand gemacht“, wird sich später ein Teilnehmer erinnern. Und im Dunstkreis des Alkohols entsteht so manche Schnapsidee: So ließen sich vier der Spieler, der Torwart Tesorieri und drei Feldspieler, die Haare raspelkurz scheren, in der festen Überzeugung, dies sei die aktuelle deutsche Mode.
So sehr den Spielern Deutschland gefällt, so sehr sind sie enttäuscht über den Empfang in Frankreich. Das Essen ist schlecht, und die Reaktionen des Publikums sind längst nicht so enthusiastisch wie in Spanien oder Deutschland. Auch die Angehörigen daheim bekommen von dem Frust der Spieler briefliche Notizen. So wie Carmelo Cerrotti, Antonios Sohn, der bis heute in „La Boca“ lebt und einige der Briefe aufbewahrt hat. „Mein Vater erzählt darin, dass alles sehr aufreibend, aber auch sehr emotional war. Man hat sie sehr gut behandelt, vor allem in Spanien und Deutschland. In Frankreich nicht so sehr, deswegen machten sie dort nur ein Spiel und kehrten danach zurück.“ Von diesem Spiel gegen Olympique Français werden später die Stammtische in Argentinien noch lange erzählen, denn kurz vor Anpfiff bemerken die Boca-Spieler, dass Antonio Cerrotti, den sie „Carburín“ nennen, weil er Kohlenverkäufer ist und zum Training immer mit geschwärzten Händen und schwarzem Gesicht kam, das Spiel offenkundig verschlafen hat.
Eine Delegation eilt ins Hotel und weckt den schlummernden Cerrotti. Der zieht sich in Windeseile um, wird ins Stadion eskortiert und ist schließlich doch dabei, als Olympique mit 4:2 geschlagen wird. Natürlich verzeichnet die Statistik auch Cerrotti als Torschützen.
Nach mehr als drei Monaten in Europa fährt Boca Juniors nach Südamerika zurück, wiederum auf einem Fracht- und Personenschiff. In Marseille geht die Mannschaft an Bord, und nach 24 Tagen sehen die Spieler von fern die Silhouette von Buenos Aires. Und schon bald werden sie gewahr, dass wieder eine beinahe unübersehbare Menschenmenge auf sie wartet. Die Nachricht von der Ankunft des Dampfers hat sich wie ein Lauffeuer in der Stadt und vor allem im Stadtteil „La Boca“ verbreitet. Gerade noch können die Spieler die Gangway hinuntergehen, schon werden sie hochgehoben und auf den Schultzern bis „La Boca“ getragen. Und obwohl sie noch nicht an der argentinischen Meisterschaft teilgenommen hatten, ernannte der argentinische Verband AFA sie zum offiziellen Meister, zum Ehrenmeister. Sie waren Helden für den Rest ihres Lebens.
Die Ergebnisse im Überblick
5/3 vs Celta, 3 – 1
8/3 vs Celta, 1 – 3
12/3 vs La Coruña, 3 – 0
15/3 vs La Coruña, 1 – 0
19/3 vs Atlético Madrid, 2 – 1
22/3 vs Real Madrid, 1 – 0
29/3 vs SG Madrid, 1 – 0
2/4 vs Real Irún, 0 – 4
5/4 vs Athletic Bilbao, 2 – 4
19/4 vs Osasuna, 1 – 0
26/4 vs Espanyol, 1 – 0
1/5 vs Espanyol, 3 – 0
3/5 vs Katalanische Auswahl, 2 – 0
9/5 vs Bayern München, 1 – 1
16/5 vs Nordw. Berlin, 3 – 0
21/5 vs Spielvereinigung 7 – 0
24/5 vs Stadtauswahl Frankfurt, 2 – 0
27/5 vs Eintracht Frankfurt, 2 – 0
7/6 Olimpique Français, 4 – 2