Wer im Fußball Karriere machen will, sollte im Januar geboren sein. Denn der „Relative Alterseffekt“ macht selbst großen Talenten das Leben schwer.
Mit der 0:4‑Niederlage gegen den VfB Stuttgart kam die U15-Mannschaft des FC Bayern noch gut davon. „Es hätte auch 0:10 ausgehen können“, sagt Hermann Hummels, der das Team vor anderthalb Jahrzehnten trainierte. Seine Spieler seien den Schwaben vor allem körperlich unterlegen gewesen. Dennoch schaffte es nur Stuttgarts damaliger Torhüter Sven Ulreich bis in die Bundesliga, während der Bayern-Mittelstürmer später Karriere als Innenverteidiger machte: 2014 wurde Mats Hummels sogar Weltmeister. Mit 14 Jahren jedoch „war das mit Mats kritisch“, gibt Vater Hummels zu. Sein Sohn sei „lang und dünn“ sowie in der körperlichen Entwicklung hinten dran gewesen. Die Erklärung dafür ist einfach: Am 16. Dezember geboren, war er einer der Jüngsten seiner Mannschaft.
Altersunterschiede von ein paar Monaten können im Jugendalter gewaltige Entwicklungsunterschiede bedeuten, was Körpergröße, Kraft und Durchsetzungsfähigkeit angeht. Mats Hummels holte sie erst mit 18 Jahren richtig auf, damals bekam er seine erste Einladung in die Nachwuchsnationalmannschaft.
Das Problem ist seit Jahrzehnten bekannt
Wie stark das Geburtsdatum insgesamt durchschlägt, zeigt eine Erhebung aus dem Jahr 2014, die fast 1700 Nachwuchsspieler zwischen U8 und U19 erfasste. Weniger als zehn Prozent von ihnen wurden im letzten Quartal geboren, dagegen aber mehr als drei Viertel in den ersten sechs Monaten. Die normale Geburtenverteilung erklärt das nicht, mit kleinen Abweichungen kommen in jedem Quartal gleich viele Menschen zur Welt. In den ersten beiden und im letzten Quartal sind es jeweils etwas weniger als ein Viertel, im dritten Quartal etwas mehr.
Dass Spieler, die in den letzten Monaten des Jahres geboren wurden, im Fußball deutlich weniger vertreten sind als jene aus den ersten, ist keine neue Erkenntnis. Der „Relative Alterseffekt“, wie der Fachbegriff dazu heißt, wurde im englischen Fußball schon vor zwanzig Jahren beschrieben. Der deutsche Sportwissenschaftler Martin Lames beklagt das Phänomen hierzulande seit einem Jahrzehnt.
Man kann diese besondere Form von Altersdiskriminierung jedoch in allen Fußballnationen feststellen, und wer annimmt, dass die vermeintlich stets etwas begriffsstutzigen Fußballer anderen Sportarten hinterherhinken, der irrt. Selbst so analytisch betriebene US-Sportarten wie Baseball und American Football kennen den Relativen Alterseffekt genauso wie Tennis oder Skifahren. Überall ist es von Vorteil, nicht zu weit vom Stichtag der Altersklasseneinteilung geboren zu sein.
Förderung nur für „Mopeds“ und „Büffel“
Allerdings erscheint es im Fußball besonders verrückt, wenn ein Viertel der jungen Talente deutlich geringere Chancen hat, gefördert und in ein Nachwuchsleistungszentrum aufgenommen zu werden sowie dort Spielzeit zu bekommen. Schließlich werden heutzutage viele Millionen Euro für eine Talentförderung ausgegeben, die sich vom Profifußball der Erwachsenen kaum noch unterscheidet.
Verstärkt wird der Effekt nach Ansicht von Hermann Hummels dadurch, dass derzeit besonders Spieler gefördert werden, die „Moped oder Büffel“ sind, wie er sagt. Die also besonders schnell oder besonders kräftig sind. Hummels, der 17 Jahre lang als Nachwuchstrainer beim FC Bayern München arbeitete, meint: „Wenn das Kriterium des Physischen im Vordergrund steht, haben wir ein Problem.“ Es rückt nämlich die körperlich entwickelten Spieler in den Vordergrund – und das sind eben oft die Älteren.
Nun ist es nicht so, dass die Gnade der frühen und die Ungnade der späten Geburt im deutschen Fußball niemanden interessiert. „Unser Ziel ist es, den Talentpool in Deutschland optimal auszuschöpfen, und im Moment steht der Relative Alterseffekt dem entgegen“, sagt Meikel Schönweitz. Er ist seit 1. Januar Cheftrainer der U‑Nationalmannschaften und hat damit die Aufgaben von Horst Hrubesch als Sportdirektor beim Deutschen Fußball-Bund übernommen. Schon länger gehört er zudem einer Arbeitsgruppe an, die den deutschen Nachwuchsfußball generell überarbeiten will. Dazu gehört auch die bessere Förderung jüngerer Spieler eines Jahrgangs.
So sind heutzutage bei den DFB-Sichtungsturnieren in der U16 und U18 nicht nur die 21 Mannschaften der Landesverbände vertreten, sondern es gibt zudem ein Perspektivteam. Es soll talentierten spätgeborenen Spielern eine Plattform geben. Seit zwei Jahren gibt es zudem Perspektivkader bei den Nachwuchsnationalmannschaften. Auch hier werden Spieler zu zwei besonderen Lehrgängen pro Saison eingeladen, die entweder körperlich noch nicht so weit entwickelt oder eben in der zweiten Jahreshälfte geboren sind. Bei zwei von ihnen scheint die Maßnahme nachhaltig gewirkt zu haben. Der Ende November 1997 geborene Marco Richter gehört seit letzter Saison zum erweiterten Stamm des FC Augsburg. Das gilt auch für den von Schalke an Greuther Fürth ausgeliehenen Stürmer Fabian Reese, der ebenfalls Ende November geboren wurde.
„Einerseits wollen wir die Spieler durch solche Maßnahmen fördern, aber auch die Klubs und die Öffentlichkeit für das Thema sensibilisieren“, sagt Schönweitz. Er weiß jedoch, dass diese Aktivitäten an der Spitze das Problem an der Basis allein nicht lösen können. Denn gerade in den Vereinen tun sich die Probleme auf. „Alle sind gefangen im System, weil sie auch performen müssen“, sagt Schönweitz. Die Performance wird jedoch oft genug in Toren und Siegen gemessen, statt in der Entwicklung der Spieler. Welcher ambitionierte U17-Trainer mag unter diesen Bedingungen das Risiko eingehen, aus der Bundesliga abzusteigen, weil er fußballerisch talentierten, aber körperlich unterlegenen Jungs üppige Spielzeit gibt, damit sie sich besser entwickeln?
Wann kommt die Bio-Banding-Offensive?
So wird beim DFB über grundsätzliche neue Ansätze nachgedacht. Einer könnte sein, durch das sogenannte Bio-Banding das „wirkliche Alter“ der Spieler zu ermitteln. Der englische Fußballverband führt schon seit vier Jahren Turniere durch, bei denen die Mannschaften nach dem biologischen und nicht dem kalendarischen Alter eingeteilt werden. Der amerikanische Fußballverband hat letztes Jahr sogar eine große Bio-Banding-Offensive angekündigt. Das klingt allerdings toller als es ist, denn das „wirkliche Alter“ basiert auf statistischen Hochrechnungen, die bislang noch ziemlich ungenau sind.
Der belgische Fußballverband hingegen versucht, dem Problem mit einer wechselnden Altersgrenze zu begegnen. Der „rollierende Stichtag“ ändert sich von Jahr zu Jahr, so dass jeder Spieler im Laufe der Jugendzeit mal zu den Jüngeren, Älteren oder Mittelalten gehört. Noch gibt es keine Forschungen dazu, ob das zu den gewünschten Ergebnissen führt. Schnell scheint sich der Effekt aber nicht auszuwirken, denn in der aktuellen U16-Nationalmannschaft Belgiens ist nur ein Spieler vertreten, der in den letzten sechs Monaten geboren ist.
Der DFB wälzt noch einige andere Ideen, die allerdings gewaltige Folgen hätten. Denn wie könnte man eine Quote durchsetzen, jüngeren Spielern eines Jahrgangs Einsatzzeiten zu garantieren? Und würde das ältere Spieler nicht benachteiligen, die gerade besser sind? Sollte man die Spiele dritteln, um in einem der Drittel die jüngeren Spieler antreten zu lassen? Und sollten in den unteren Jahrgängen die Tabellen ganz abgeschafft werden, um den Leistungsdruck zu verringern?
„Wenn ich nicht mit der großen Axt zuschlagen kann, muss ich smart sein“
Vieles wird gerade diskutiert und geprüft. „Aber es ist auch nicht so, dass alle Talente verhindert werden, Qualität setzt sich am Ende durch“, meint Schönweitz. Tatsächlich schwächt sich der Relative Alterseffekt mit zunehmendem Alter ab. In der Bundesliga unterscheidet sich die Zahl der Spieler aus den ersten drei Quartalen jeweils nicht mehr so stark. Die im vierten Quartal Geborenen hingegen machen aber weiterhin nur gut zwölf Prozent aus. Im Kader der Nationalmannschaft für die letzten beiden Länderspiele 2018 waren elf von 23 Spielern im ersten Quartal geboren und nur einer im letzten: Mats Hummels.
Dessen Vater Hermann, der inzwischen Nachwuchsspieler berät, findet, dass für Spätgeborene und Spätentwickler der ursprüngliche Nachteil zum Vorteil werden kann: „Wenn ich nicht mit der großen Axt zuschlagen kann, muss ich smart sein.“ Wer in der Jugend körperlich unterlegen ist, der sei halt gezwungen, Schläue und spielerisches Geschick auf dem Platz zu entwickeln. Sein Paradebeispiel dafür ist der im November geborene Philipp Lahm, den Hummels in der U15 ebenfalls trainierte. „Wir konnten mit ihm nicht jedes Spiel gewinnen, aber das mussten wir auch nicht“, sagt er. Doch wenn er heute noch Trainer wäre, meint Hummels, müsst er einen so schmächtigen Spieler wie Lahm vermutlich aussortieren und durch einen zugekauften Spieler ersetzen. Kein Wunder also, dass es im deutschen Fußball neben all den Mopeds und Büffeln an den Füchsen fehlt.