Sie kann extrem laut und unglaublich nah sein – aber auch wie nach dem Todesfall am Sonntag so berührend und sensibel. Die größte Stehplatztribüne Europas und ihre Geschichte.
Es gibt nicht eine Südtribüne, sondern zwei. Die alte und die neue. Oder oben und unten. Und es gibt uns.
Unten, das sind die Blöcke 10 bis 15. Hier ist alles noch so, wie es war, als ich 1977, als Zehnjähriger mit kalten Händen und weit aufgerissenen Augen, auf einem Holzbänkchen stand, mich am Wellenbrecher festhielt und Erwin Kosteddes Namen schrie. In den Achtzigern war es hier oft leer und kalt, und man bekam schnell Ärger mit Idioten. Manche waren Nazis von der berüchtigten Borussenfront, andere suchten einfach nur Streit. Die Stimmung war oft unterschwellig aggressiv, aber innerhalb von ein paar Jahren änderte sich das komplett. In den Neunzigern wurde es stickig, eng und laut. Man ging ins Stadion, um Spaß zu haben. Das war natürlich auch einfacher, weil der BVB wieder erfolgreich wurde. 1989 holten wir den DFB-Pokal, den ersten Titel nach 23 Jahren. 1995 wurden wir zum ersten Mal Meister in der Bundesliga.
Anfang der Neunziger gab es den aus heutiger Sicht absurden Plan, aus der Süd eine Sitztribüne zu machen. Wenn er verwirklicht worden wäre, ich wäre nicht mehr hingegangen. Im Sitzen gewinnt man keine Spiele. Stehend schon. Vielleicht nicht so oft, wie einige Fans glauben, aber manchmal doch. Im Mai 1982 etwa hatten wir die Chance, zum ersten Mal seit den sechziger Jahren wieder in den Europacup zu kommen. Zur Pause stand es 0:2 gegen Bochum. In der zweiten Hälfte spielte der BVB auf die Süd und wir haben so lange geschrien und gefleht, bis der Drecksball endlich zum dritten Mal im Bochumer Tor lag.
Oben, das sind die Blöcke 80 bis 84, die 1998 auf den alten Teil der Südtribüne draufgesetzt wurden. Eigentlich war das kaum zu glauben: Sechs Jahre, nachdem die Fans mit Engelszungen auf den Verein eingeredet hatten, um die Versitzplatzung der Süd zu verhindern, baute er mit voller Absicht die größte Stehplatztribüne Europas. Aber das war der Zeitgeist. Borussia Dortmund hatte gerade die Champions League gewonnen, das Beste und Größte war gerade mal genug.
Der Boden schwingt genau wie früher
Der ganze Größenwahn, das Stadion insgesamt aufzustocken, die Ecken zu schließen und eben auch eine gigantische Stehtribüne zu bauen, hätte den Klub um ein Haar in den Ruin getrieben. Aber vielleicht gehört zu wahrer Größe einfach ein Stück Wahnsinn dazu. Ohne diesen Ausbau wäre unser Stadion jedenfalls von der englischen „Times“ 2009 wahrscheinlich nicht zum besten der Welt gewählt worden.
Vor dem Ausbau war die Süd schon berühmt, danach wurde sie eine Touristenattraktion und ein Medienereignis. Dabei glauben im unteren Teil viele, dass die Stimmung nach dem Ausbau gelitten hat. Sie sagen, dass es früher mit nur halb so viel Leuten lauter war, weil der Schall vom niedrigen Dach zurückgeworfen wurde. Ich habe das auch geglaubt – bis Klopp kam.
Seither weiß ich, dass der Boden noch genauso schwingt wie früher und dass einem die Tränen noch genauso plötzlich in die Augen schießen können wie am Tag, als Ricken gegen La Coruña traf.
Die Süd wird seit einigen Jahren zwar gerne Gelbe Wand genannt, ist aber keine. Jedenfalls keine einheitlich gemauerte und sauber verputzte. Manchmal, wenn ich es nicht zu meinem Stammplatz schaffe, stelle ich mich nach oben. Man singt dort dieselben Lieder und trägt dieselben Schals, aber ich fühle mich dort allein. Auf meinem Stammplatz sind mir ja nicht nur die Leute in der direkten Nachbarschaft vertraut, sondern auch alle anderen in Sichtweite. Zumindest die, die immer da sind. Und das sind eigentlich fast alle.
Aber wahrscheinlich geht es denen oben nicht anders. Unten ist das ständig pulsierende Epizentrum der Süd in den Blöcken 12 und 13, wo nicht nur, aber vor allem die Ultras stehen. Doch an den Rändern wird es ruhiger, nachdenklicher. Vielleicht auch ein wenig älter und manchmal westfälisch muffelig und nörgelig. Bis … ja, bis etwas passiert, das wie ein Stromschlag durch 25 000 Menschen fährt und sie für ein paar kostbare Momente zu einem einzigen, riesigen Körper werden lässt. Der Grund dafür kann Freude oder Trauer sein – ein herbeigesehntes Tor oder ein Gegentor aus dem Nichts, eine Rettungstat oder ein Einsatz, der nicht belohnt wird – in jedem Fall ein starkes Gefühl. In den Jahren vor Klopp waren solche Momente selten geworden, danach wurden sie fast die Regel. Und sie lieferten den Beweis, dass es nicht oben und unten gibt, sondern nur uns.