Heute wäre der Mann mit den krummen Beinen 90 Jahre alt geworden: Garrincha. Er führte Brasilien zum WM-Titel – und verkörperte den futebol arte wie kein anderer.
Er hatte stets eine Schräglage. Aufgrund seiner zwei krummen Beine, das eine war zudem noch sechs Zentimeter kürzer als das andere, schien es ständig so, als würde er gleich sein Gleichgewicht verlieren. Doch Manoel Francisco dos Santos fiel nie, oder erst dann, wenn er mehrfach in die Beine getreten worden war.
Er hat in seinem Leben viele Namen bekommen, Garrincha, kleiner Vogel, wurde er wegen der Leichtigkeit seines Spiels genannt. Weil er von Geburt an ein O- und ein X‑Bein hatte, nannten sie ihn „Engel der krummen Beine“. Und als er berühmt war, wurde er zu Alegria de Povo, der Freude des Volkes. Der Schriftsteller Nelson Rodrigues schließlich hat ihn in seinen Chroniken den Charlie Chaplin des Fußballs getauft.
Und genau so slapstickartig sieht es auch aus, wenn man sich den tanzenden Derwisch mit Ball in den wenigen alten Filmaufnahmen anschaut, die es von Garrincha gibt. Es ist die reine Freude, den anderen auszutricksen, lächerlich zu machen, um sich danach vor Lachen auf den Boden zu werfen. Meistens ist es der gleiche Trick, er täuscht an, einmal, zweimal, wippt mit dem Oberkörper, springt vor und zurück, wartet ab, und plötzlich zieht er am Gegner vorbei. Manchmal hält er dann inne, damit ihn der Verteidiger wieder einholt, um einmal mit dem Ball um ihn zu kreisen und erneut an ihm vorbei zu flitzen.
Garrincha war ein Malandro, ein Schlitzohr, ein Schlingel – eine Figur, die im brasilianischen Fußball bis heute kaum wegzudenken ist. Unangenehme Großmäuler wie Edmundo und Romário sind – bis heute aktive – Malandros. Aber auch sympathische Typen wie Josimar gehören zu ihnen, jener Rechtsverteidiger, der bei der WM 1986 aus dem Nichts auftauchte, zwei unglaubliche Tore fast von der Eckfahne schoss, und dann wieder aus dem Rampenlicht verschwand und im Drogensumpf endete.
Der bekannteste von allen ist aber Garrincha, 1958 und 1962 mit Brasilien zweifacher Weltmeister, Rechtsaußen von Botafogo in Rio, ein Malandro und Mulherengo, Frauenheld, aus dem kleinen Städtchen Pau Grande. In Brasilien sagt man, Pelé werde zwar geschätzt, verehrt und vergöttert werde aber allein „Mané“ Garrincha. „Und ich bin mir sicher, dass Garrincha heute noch zehnmal besser spielen würde“, sagt sein Biograf Ruy Castro. „Als Garrincha aktiv war, gab es noch keine Gelben Karten und er wurde ständig getreten und gefoult, ohne dass es geahndet wurde.“
Aber das ist nur eine Spekulation, eine müßige zudem. Wer weiß schon, wie Garrincha zurechtgekommen wäre, im verdichteten Mittelfeld des modernen Fußballs und im Blitzlicht der elektronischen Medien. Er war ein Kind seiner Zeit. Als Garrinchas Stern 1958 während der Weltmeisterschaft in Schweden aufging, waren es zuerst die Zuschauer in den Stadien, die begriffen, dass hier ein außergewöhnlicher Fußballer sein Debüt feierte. So etwas hatte man noch nicht gesehen, all die Tricks, die Finten, diese ursprüngliche, fast naiv anmutende Freude am Spiel. Er erfand Tricks, entwickelte andere weiter, machte intuitiv Dinge, die andere Spieler über Jahre einstudieren müssten.
Der Titelgewinn 1958, der das Trauma der im eigenen Land verlorenen WM 1950 milderte, machte Garrincha fast über Nacht zur nationalen Identifikationsfigur. Er versammelte die Bevölkerung eines Landes hinter sich, das von einer politischen Krise in die nächste taumelte, die sich aus eigener Kraft aus der Kolonialherrschaft befreit hatte und dennoch von Minderwertigkeitskomplexen geplagt wurde. Die Seleção einte das Volk. Schriftsteller Rodrigues, selbst ein Anhänger der Militärdiktatur, schrieb: „Das ist das Wunder, das der Fußball vollbringt. Jeder Sieg entschädigt das Volk für alte, niemals vernarbte Enttäuschungen“ Und Garrincha war in diesen Jahren ein Garant für große Triumphe. An der Seite Pelés führte er die brasilianische Elf zur Titelverteidigung, er war auf der Höhe seines Schaffens.