Das einzigartige Projekt „Cards of Qatar“ erzählt die Geschichte der Arbeiter, die in Katar zu Tode gekommen sind – auf Sammelkarten. Martin Schibbye erklärt die Idee dahinter, ob die WM die Situation der Arbeiter verbessert hat und wie wir mit dem Turnier umgehen sollen.
Martin Schibbye, wie sind Sie auf die verblüffende Idee gekommen, die Biografien von in Katar verstorbenen Wanderarbeitern auf Sammelkarten zu erzählen?
Wir haben uns gefragt, wie wir ein Publikum erreichen, das normalerweise keine Geschichten über Migranten aus Südasien liest. Ich bin zwar nur ein Reporter, arbeite zum Glück aber mit Kollegen zusammen, die kreativ über Verpackungen nachdenken. Mit Blankspot haben wir eine Plattform für investigativen Journalismus gegründet, wo wir ständig mit neuen Formen experimentieren. Und es war meine Mitgründerin Brit Stakston, die auf die Idee mit den Sammelkarten gekommen ist.
Warum sind diese Karten glänzend wie die von Fußballstars, wo die Geschichten dahinter doch so traurig sind?
Weil diese Arbeiter Stars sind. Sie sind hochqualifiziert, motiviert und wollten ihre Familien aus der Armut befreien. Wir wollten sie nicht als Opfer darstellen.
Wie haben die Angehörigen darauf reagiert?
Sie haben sie in ihr Herz geschlossen. Ich bin mit den Karten in die Dörfer in Nepal gefahren und habe die Familien der Hinterbliebenen besucht. Alle haben gesagt, es bedeute ihnen sehr viel, dass jemand aus einem anderen Land herauszufinden versucht hätte, was passiert ist. Denn oft genug wussten sie es nicht.
Gestorbene Migranten als Sammelkarten
Wie sind Sie zu den Geschichten gekommen?
Anfangs war das Schwierigste, Listen der Toten zu bekommen. In einigen Fällen konnten wir Akten über jene Familien bekommen, die eine Entschädigung vom Staat erhalten hatten. In anderen Fällen haben uns NGOs geholfen, lokale Gewerkschaften oder soziale Organisationen. Es war eine zeitraubende Arbeit, anschließend die Familien anzurufen und Interviews zu vereinbaren. Vielfach lebten sie weit von den Großstädten und sprachen nur lokale Sprachen, so dass sogar die Journalisten vor Ort einen Übersetzer benötigten. Und dann sind uns auch noch die Mittel ausgegangen.
Wie konnten Sie das Projekt retten?
Die schwedische Fußball-App Forza Football hat an die Idee geglaubt, und jetzt hoffen wir, dass die Veröffentlichung uns zu weiteren Partnern und neuen Ressourcen führt. Ich träume davon, dass diese Karten eines Tages verkauft werden und das Geld an die Familien geht.
„Wenn das herauskommt, wird es keine Weltmeisterschaft in Katar mehr geben“
Es gibt die ersten 33 Karten, wie viele Leben sollen noch auf diese Weise erzählt werden?
Wir werden in den vier Monaten bis zum Anpfiff in Doha jeden Tag eine Geschichte veröffentlichen. Wir freuen uns, die deutschen Fans über 11 FREUNDE zu erreichen und hoffen, neue Partner zu finden. Dann können wir die Kollegen in Indien, Nepal und Bangladesch losschicken, um weitere Geschichten zu finden.
Gab es eine Lebensgeschichte, die Sie besonders bewegt hat?
Sie berühren einen in ihrer Gesamtheit. Wenn man eine Geschichte nach der anderen liest, wird einem die schiere Masse des Leids klar. Ich habe eine Datei mit allen Interviews, die wir bislang geführt haben. Sie ist über 200 Seiten lang, und nachdem ich sie am Stück durchgelesen hatte, habe ich gedacht: Wenn das herauskommt, wird es keine Weltmeisterschaft in Katar mehr geben. Natürlich wird das nicht passieren, aber ich hatte das Gefühl.
Gab es etwas, das Sie bei der Recherche überrascht hat?
Was wir alle übersehen, ist der seelische Schmerz, der mit der Arbeitsmigration verbunden ist. Niemand hat gefragt, wie sich die Migranten fühlen. Wie ist es, zehn Jahre lang fern von der Familie zu verbringen? Dass Kinder aufwachsen, ohne ihren Vater kennen zu lernen. Es gibt so viele psychische Krankheiten, so viele Selbstmorde. Sowohl in Katar als auch in den Heimatländern und nach der Rückkehr in die Heimat.
Wie der Wüstenstaat sich eine WM kaufte und Wanderarbeiter dafür teuer bezahlten
Sie beschäftigen sich schon seit vielen Jahren mit Menschenrechtsfragen und haben dafür sogar 14 Monate in Äthiopien im Gefängnis gesessen. Warum ist Ihnen die Situation der Arbeiter in Katar so wichtig?
Ich habe früher über schwedische Arbeiter geschrieben, die in Fabriken in Schweden gestorben sind. Dabei lernte ich die Familie einer 21-Jährigen kennen, die schwanger war, als sie bei der Arbeit zu Tode kam. Für die Familie war es heilsam, mit den Medien zu sprechen, weil ihre Tochter dadurch mehr war als Teil einer Statistik. Im Bezug auf die Familien der Arbeiter aus Südasien in Katar hatte ich das gleiche Gefühl: Es wird zu viel über Zahlen debattiert und zu wenig über die Menschen, die gestorben sind. Das liegt auch daran, dass die Sache so komplex ist, nicht nur schwarz-weiß.
Es gibt also auch positive Aspekte dieser Arbeitsmigration?
60 Prozent der Familien in Nepal erhalten Geldüberweisungen aus dem Ausland, und das hat zu einem dramatischen Rückgang extremer Armut geführt. Die Menschen die weggegangen sind, haben wirkliche Opfer gebracht, um ihre Familien aus der Armut zu befreien.
Der Fußball argumentiert, dass sich die Situation der Arbeiter in Katar aufgrund der Weltmeisterschaft und der damit verbundenen Aufmerksamkeit langfristig verbessern wird. Glauben Sie das?
Die neuen Gesetze in Katar und die Arbeitsreformen sind tatsächlichen einzigartig, vor allem im regionalen Vergleich. Die Abschaffung des Kafalasystems, das den Arbeitgebern unheimliche Macht gegeben hat, ist ein historischer Sieg für die Allianz zwischen globalen Gewerkschaften und denen im Fußball, die ihre Stimme erhoben haben. Nun bleibt es abzuwarten, ob diese Reformen auch nach dem Turnier Bestand haben.
Sind Sie selbst ein Fußballfan?
Ja, ich wohne südlich von Stockholm, im Hammarby-Land. Als ich im Gefängnis war, habe ich sogar ein Trikot von meiner Mannschaft geschickt bekommen.
Viele Fußballfans in Deutschland fragen sich, wie sie mit dieser Weltmeisterschaft in Katar umgehen sollen. Sollen sie den Fernseher ausschalten und boykottieren, oder was raten Sie?
Ich habe alle Familien dazu befragt und niemand hat mir gesagt, dass sie einen Boykott wollen. Die Familie von Bine Bahadur Bishworkarma etwa ist stolz auf seine Fähigkeiten. Er war Facharbeiter und musste mit teurem Material wie den Marmorfliesen für die Fußböden umgehen. Deshalb sagten sie, alle Fans, die an den Marmorböden vorbeikommen, sollten seine gute Arbeit zu schätzen wissen.
Der schwedische Journalist Martin Schibbye, 41, berichtet seit Jahren aus Süd- und Südostasien. Nachdem er 2012 für 14 Monate in Äthiopien im Gefängnis saß, weil er über Menschenrechtsverletzungen recherchiert hatte, gründete er zusammen mit der Medienstrategin Brit Stakston Blankspot. Diese rein digitale Plattform für Journalismus wurde per Crowdfunding finanziert und will die unerzählten Geschichten erzählen und die übersehenen Ecken der Welt unter die Lupe zu nehmen. Schibbye wurde mit dem Anna-Politkowskaja-Gedächtnispreis und dem Preis für Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ ausgezeichnet.
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