Was heute von den Zuschauern erwartet wird, sorgte bei der WM 1958 für größte Empörung: Heute vor 65 Jahren peitschte das schwedische Heimpublikum sein Team mit Schlachtgesängen gegen Deutschland nach vorne – und löste damit eine diplomatische Krise aus.
Für die deutschen Medien war es ein handfester Skandal. 3:1 hatte Gastgeber Schweden den amtierenden Weltmeister Deutschland bei der WM 1958 im Halbfinale geschlagen, doch damit war das Spiel noch lange nicht vorbei. Neben einigen umstrittenen Entscheidungen des ungarischen (!) Schiedsrichters Istvan Zsolt war es vor allem das Verhalten des Heimpublikums, das die deutschen Schreiber zur Weißglut brachte. Die Schweden hatten es gewagt, ihre Mannschaft über neunzig Minuten zum Sieg zu schreien, angeleitet von enthusiastischen Vorsängern am Spielfeldrand.
Bild titelte verbittert von der „Hölle in Göteborg“ und beklagte, viele Jahre vor Schwarz-Rot-Geil: „Das hatte mit Neutralität bei einer WM nichts mehr zu tun.“ Andere Kommentatoren wurden noch deutlicher, fühlten sich in eben überwunden geglaubte Zeiten zurückversetzt, mit Deutschland in der Opferrolle. „Wir waren vom Kriege einiges gewohnt. Die Heimat mit dem Inferno des Sirenengeheuls, die Front mit anderen Unfreundlichkeiten. Das alles war aber nichts gegen die Organisation der schwedischen Lärmkonstrukteure“, lautete das Fazit im Hamburger Abendblatt. Aus heutiger Sicht bemerkenswert, war es aber der Kicker, der den maßlosen Vergleichen die Krone aufsetzte: „Wir sahen uns plötzlich in eine Art Berliner Sportpalast versetzt, wo der Einpeitscher Goebbels hieß. Die Methode jedenfalls ist verwandt.“
Grund der Empörung war eine nach heutigen Maßstäben vollkommen harmlose Textzeile, die als Dauergesang im Göteborger Stadion ertönte: „Heja Sverige friskt humör, det är det som susen gör, Sverige, Sverige, Sverige“, frei übersetzt in etwa „Auf geht’s Schweden, mit frischem Mut immer voran, Schweden, Schweden, Schweden“. Doch nicht was gesungen wurde, erregte die Gemüter, sondern dass es überhaupt passierte. Weder die deutschen Reporter noch die Spieler waren mit Fangesängen im Fußball vertraut, wie der deutsche Torwart Fritz Herkenrath später zugab: „Verglichen mit dem, was man heute in den Stadien hört, ging es in Göteborg noch ziemlich ruhig zu. Wir waren nur nicht daran gewöhnt. Lautes Anfeuern war damals in Deutschland noch völlig unüblich. Wir zollten dem Gegner immer Respekt.“
In der Tat waren Spieler und Medien in den fünfziger Jahren penibel darauf bedacht, sich nur ja nichts zuschulden kommen zu lassen, was auch nur im Entferntesten als Unsportlichkeit ausgelegt werden könnte. Der Fairplay-Gedanke stand an erster Stelle. Wer vor allem am Erfolg des eigenen Teams interessiert war, und nicht am Fußball an sich, geriet schnell in den Ruf, ein „Fanatiker“ zu sein – eines der schlimmsten Schimpfwörter, das die Sportpresse damals bereithielt.
Halbfinalgegner Schweden hingegen war seiner Zeit in Sachen Support weit voraus. 1958 hatten Fangesänge dort bereits eine lange Tradition. „Ehrlich gesagt hatten wir nicht erwartet, dass das ein Problem darstellen könnte“, sagt Bengt Ågren, damals Sekretär des Organisationskomitees. „Wir Schweden haben unsere Teams immer angefeuert und dafür auch Einpeitscher bei Länderspielen eingesetzt. Keiner von uns dachte daran, dass wir das bei einer Weltmeisterschaft nicht machen könnten.“ Schon 1916 hatte der schwedisch-amerikanische Leichtathletiktrainer Ernest Hjertberg das amerikanische Cheerleader-Modell in Skandinavien eingeführt und für ein Länderspiel gegen den Erzrivalen Dänemark das berühmte „Heja Sverige“ verfasst. Der Chant, der nach dem Viertelfinale den sowjetischen Coach Gawriil Katschalin konstatieren ließ, „sogar der Stadionbeton hat die Schweden angefeuert“, dürfte damit der älteste Fangesang des Fußballs sein.
In der Vorrunde hatten die Veranstalter es noch den Zuschauern überlassen, das Lied zu singen, ab dem Viertelfinale setzten sie zusätzlich Vorsänger ein, die vor und während des Spiels die Massen animierten; ausgestattet mit blauer Hose und gelbem Pullover, einer Landesflagge und, gewissermaßen als Urväter der heutigen Capos, einem batteriebetriebenen Megafon. Funktionär Ågren räumt im Rückblick ein: „Vielleicht waren wir etwas übermotiviert, als wir merkten, dass es Schweden wirklich ins Halbfinale oder sogar ins Endspiel schaffen könnte.“
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