Zum Start der Tour de France ehren wir die Typen, die bei keiner WM fehlen dürfen: Die verrückten Deutschen, die mit dem Fahrrad kommen. Selbst wenn sie dafür über die Anden müssen.
Für manche Menschen ist der legendärste WM-Held ein mysteriöser Argentinier namens Pedro Gatica. Im Frühjahr 1986 machte sich der damals 52-Jährige auf, um von seinem Haus in Buenos Aires nach Mexiko City zu reisen, wo Argentinien sein erstes Gruppenspiel bei der WM bestreiten würde. Doch Gatica stieg nicht etwa ins Auto, den Bus oder einen Zug, um Süd- und Mittelamerika zu durchqueren, sondern auf sein Fahrrad. Auf einigen Internetseiten kann man lesen, dass seine Fahrtstrecke 7390 Kilometer betrug, aber das ist die Luftlinie zwischen den beiden Städten. Als Gatica im Juni sein Ziel erreichte und einen deutschen Reporter traf, rechneten die beiden aus, dass der Argentinier knapp 20.000 Kilometer in den Beinen hatte.
Das wirklich Verblüffende an Gatica ist aber nicht seine Ausdauer oder seine Entschlossenheit, sondern seine Nationalität. Denn eigentlich ist die lange und strapaziöse Anreise zu einer Fußball-WM auf dem Rad eine deutsche Spezialität. Nehmen wir nur mal die WM 1958 in Schweden. Zu der fuhr der 38-jährige Hans Bäumer aus Hemer im Sauerland auf dem Drahtesel. Kaum angekommen, stellte er fest, dass er nicht der einzige Fan der deutschen Mannschaft war, der sich auf diese Weise bis nach Skandinavien durchgekämpft hatte. Johannes Hoffmann, ein zwei Jahre jüngerer Briefträger aus Wuppertal-Barmen, hatte für die 1400 Kilometer nach Malmö sieben Tage gebraucht. Da sein Jahresurlaub nur drei Wochen betrug, musste er schon nach der Vorrunde wieder nach Hause radeln und erlebte trotz aller Anstrengungen die großen deutschen K.-o.-Spiele nur am Fernseher mit.
Trotzdem dürfte Hoffmann zufrieden gewesen sein. Ein Reporter des „Sport-Magazin“ bekam nämlich mit, wie der Fan auf dem Trainingsgelände der DFB-Auswahl Nationalspieler Horst Szymaniak in ein Gespräch verwickelte und ihn bat, den Wuppertaler SV nicht zu verlassen, für den „Schimmi“ seit 1955 kickte. „Natürlich bleibe ich“, versprach der verdatterte Szymaniak. Und das tat er auch, allerdings bloß für ein Jahr, dann war der Ruf des Geldes lauter als das Flehen eines Briefträgers.
Doch obwohl es Hoffmann auf die Seiten der nationalen Sportpresse geschafft hatte, war es sein Bruder im Geiste und auf der Pedale, Hans Bäumer, der als der berühmteste und bekloppteste aller radelnden Fußballfans galt. „1954 bei der Weltmeisterschaft in der Schweiz fing meine Leidenschaft an“, sagte er. Bei dieser seiner ersten Fahrt zu einer WM war Bäumers Motivation noch ganz simpel: Er hatte einfach kein Geld, um anders voranzukommen. Doch schnell wurde das Radeln für ihn zum Selbstzweck. Als der „Kicker“ Ende 1970 ein doppelseitiges Porträt über Bäumer veröffentlichte, nannte ihn das Magazin nicht nur „unseren Schlachtenbummler Nummer eins“, sondern erwähnte auch, dass Bäumer auf seinen ausgedehnten Reisen zu Fußballspielen inzwischen ein Fahrtenbuch dabei hatte, das er sich von Tankwarten oder Beamten abstempeln ließ. Schließlich wollte ihm der eine oder andere nicht glauben, dass er auf seinem Fahrrad sogar über die Anden gefahren war.
Für jenes Turnier, 1962 in Chile, bestand Bäumers ursprünglicher Plan darin, vom Sauerland bis nach Portugal zu radeln und dort ein Schiff nach Südamerika zu besteigen. Doch in Barcelona klaute man ihm sein ganzes Geld und auch sein Gepäck. Er sagte: „Ich musste mit einer Wut im Bauch die Rückreise antreten, konnte jedoch durch ein großes Entgegenkommen meiner Schwester, die mir 2000 Mark vorstreckte, doch noch per Flugzeug nach Santiago de Chile reisen.“ Natürlich mit seinem Fahrrad im Gepäckraum.