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Pierre Bar­thé­lemy, hätten die Aus­schrei­tungen von Mar­seille und Nizza ver­hin­dert werden können?
Da will ich mir kein Urteil anmaßen. Die Situa­tion in Frank­reich – zwi­schen Ter­ror­ge­fahr und andau­ernden poli­ti­schen Demons­tra­tionen – ist extrem. Unsere Polizei ist müde, und die Hoo­li­gans waren extrem gut vor­be­reitet. Dazu kam die unbe­re­chen­bare Gewalt von Ein­hei­mi­schen. Und doch muss man sagen, dass Frank­reich sicher nicht aus­rei­chend vor­be­reitet war auf dieses Tur­nier. Antoine Bou­tonnet, Chef der fran­zö­si­schen DNLH (natio­nale Behörde zur Bekämp­fung von Hoo­li­ga­nismus, d. Red.), igno­riert seit 2009 die Emp­feh­lungen von fran­zö­si­schen und aus­län­di­schen Wis­sen­schaft­lern und der aktiven fran­zö­si­schen Fan­szene. Jeder hier, der Ahnung von der Sache hat, for­dert einen offenen Dialog auf Augen­höhe. Bou­tonnet will das nicht. Außerdem irri­tiert er regel­mäßig mit seinen Aus­sagen, zuletzt damit, dass Fans bei der EM eigent­lich keine Pro­blem­fans seien, son­dern eher eine fami­liäre Szene.

Was offen­sicht­lich nicht wahr ist.
Nein. Und wenn man ein Pro­blem igno­riert oder gar nicht aner­kennt, kann man es auch nicht bekämpfen. Hinzu kommt, dass er seit Jahren einen erbit­terten Kampf gegen die Ultras führt, für ihn scheinen sie offenbar das Böse in Rein­form zu sein. Allein in diesem Jahr haben die Behörden bereits 218 Gäs­te­ver­bote aus­ge­spro­chen. Davon waren viele enorm über­zogen. Pyro­fackeln und krea­tiver Pro­test sind für fran­zö­si­sche Behörden Hoo­li­ga­nismus, dabei gibt es eigent­lich keine Hoo­ligan-Kultur mehr in Frank­reich.

Bou­tonnet war es auch, der Aus­ein­an­der­set­zungen zwi­schen Fans aus Mar­seille und Paris als Aus­löser der Gewalt genannt hat.
Mit dieser Mei­nung steht er ganz alleine da. Jeder Beob­achter hat bestä­tigt, dass es zwei unter­schied­liche Aus­schrei­tungen gegeben hat. Näm­lich: Eng­länder gegen Ein­hei­mi­sche und Eng­länder gegen Russen. Gut mög­lich, dass auch gewalt­be­reite Fans aus Paris dabei waren, aber das wäre ohnehin neben­säch­lich und war ganz sicher nicht die Ursache für Eska­la­tion. Es gab zwei wesent­liche Gründe: Auf der einen Seite wollten sich die Ultras von Mar­seille für die Schlacht von 1998 rächen (damals waren bei der WM eng­li­sche Hoo­li­gans auf Tune­sier los­ge­gangen, d. Red.), auf der anderen Seite wollten die Russen den Eng­län­dern ihre Über­le­gen­heit demons­trieren.

Welche Methoden haben die fran­zö­si­schen Behörden, wenn es um gewalt­be­reite Fuß­ball­fans geht?
Hoo­li­ga­nismus, das sagt die DNLH ja selbst, exis­tiert in Frank­reich quasi nicht mehr. Die Behörde kämpft gegen Ultras – und damit ein­her­ge­hend gegen die spon­tane Gewalt, Pyro­technik und Demons­tra­tionen in der Kurve. Der Umgang mit den Ultras ist also auf Kon­fron­ta­tion aus­ge­richtet. Selbst für Anhänger von Klubs aus unteren Ligen, wo zu den Spielen manchmal nicht mehr als ein paar Dut­zend Leute kommen, wurden Gäs­te­ver­bote erteilt. In der Praxis haben die Behörden also nur wenig Erfah­rung im Umgang mit den Ultras. Sie wissen ein­fach nicht, wie man mit ihnen umgeht. Geschweige denn mit echten“ Hoo­li­gans.

Wie schätzen Sie die Arbeit der fran­zö­si­schen Polizei vor Ort ein?
Die aller­meisten Poli­zisten haben ihr Bestes gegeben. Ein Eng­länder ver­dankt sein Leben nur dem Ein­greifen eines fran­zö­si­schen Beamten.

Sie betreuen als Anwalt viele Fuß­ball-Fans, die von Sta­di­on­ver­boten betroffen sind. Wie wird dieses ja auch in Deutsch­land sehr umstrit­tene Mittel in Frank­reich ein­ge­setzt?
Dazu muss man wissen, dass es in Frank­reich zwei unter­schied­liche Arten von Sta­di­on­ver­boten gibt. Einmal die Sank­tionen, aus­ge­spro­chen von einem Gericht gegen Fans, die Ärger gemacht haben. Und als eine Art vor­beu­gende Maß­nahme, über die der jeweils zustän­dige Prä­fekt im Vor­feld ent­scheiden darf. Die erste Art stellt kein Pro­blem dar, der Fan hat, wie jeder andere Ange­klagte auch, das Recht auf einen fairen Pro­zess. Aber die zweite Vari­ante ist sehr pro­ble­ma­tisch.

Inwie­fern?
Sie wurde einst ein­ge­führt, um die wirk­lich bösen Jungs schon vor der Abfahrt am Besuch des jewei­ligen Spiels zu hin­dern. Inzwi­schen wird das aller­dings recht infla­tionär ein­ge­setzt. Es kann jeden treffen: Fans, deren Aus­wärts­spiel plötz­lich zu einem Risi­ko­spiel gemacht wird und nicht fahren dürfen. Fans, die mit Gesängen und Ban­nern ledig­lich ihre Kritik zum Aus­druck gebracht haben. Die fran­zö­si­sche Politik behauptet zwar, dass sämt­liche Ent­schei­dungen von den Ver­wal­tungs­ge­richten getroffen werden, aber die Rea­lität sieht so aus, dass manche Pro­zesse erst Jahre später statt­finden und sich der betrof­fene Fan in diesem Zeit­raum an jedem Spieltag auf der Wache melden muss. Noch schlimmer: Das Sta­di­on­verbot hat so lange Bestand.

Die Uefa droht nun Russ­land mit einem Aus­schluss aus dem Tur­nier, wenn es erneut zu Kra­wallen kommt. Eine rich­tige Ent­schei­dung?
Die Uefa ist zwar ver­ant­wort­lich, was wäh­rend der EM in den Sta­dien pas­siert, es ist ja ihr Tur­nier. Aber recht­lich hätte ein Aus­schluss Russ­lands wegen der Vor­fälle außer­halb und inner­halb der Sta­dien keine recht­liche Grund­lage.

Aus Feh­lern lernt man – sagt man in Deutsch­land. Welche Maß­nahmen sollten die fran­zö­si­schen Ver­ant­wort­li­chen nach den Vor­komm­nissen von Mar­seille tätigen?
Ers­tens: Sie müssten end­lich ihrer Ver­ant­wor­tung nach­kommen. Zwei­tens: Mehr Dialog, ein engeres Betreu­ungs­ver­hältnis zu den Fans. Prä­ven­tion und Vor­be­rei­tung heißt das ein­zige wirk­same Mittel. Sta­di­on­ver­bote küm­mern die Hoo­li­gans nicht, die im Stadt­zen­trum kämpfen. Und ein Alko­hol­verbot löst nur einen sehr kleinen Teil des Pro­blems – ein Groß­teil der rus­si­schen Schläger waren aus­trai­nierte Asketen.

Pierre Bar­thé­lemy ver­tritt als Anwalt für die Kurve vor allem Sta­di­on­ver­botler von Paris St. Ger­main. Bei Twitter (@Pierre_B_y) folgen dem Experten der natio­nalen Fan­szene mehr als 16.000 Men­schen.