Ihr wisst es längst: unsere Jubiläumsausgabe zu 50 Jahren Bundesliga ist im Handel erhältlich. Passend dazu wollten wir von Euch wissen: Was war Euer liebstes Bundesligaspiel aus 50 Jahren Oberhaus-Gekicke? Hier präsentieren wir die drei Gewinnertexte! Allen Teilnehmern vielen Dank für die kurzweilige Unterhaltung.
1. Platz
Prost, noch eine Zigarette! / Ingo Baumgartl über das Frankfurter Saisonfinale 1998/99
Im Frühsommer 1999 war ich mit meiner Fußballmannschaft auf Abschlussfahrt in Düsseldorf. Nicht gerade die Welthauptstadt des Fussballs. Der Plan: Einfach nur viel essen, viel lachen und vor allem viel trinken! Dass an dem Tag der letzte Spieltag der Bundesliga anstand, juckte mich nicht sonderlich, denn ich hatte der Frankfurter Eintracht schon länger abgeschworen. Zu sehr hatte mich der Verein die Jahre davor angekotzt.
Wie 1992, als sie erst zu dämlich waren, die noch halbbesoffenen Bremer zu schlagen und dann am letzten Spieltag die Meisterschaft in Rostock versemmelten. Oder 1994 als der depperte Jupp Heynckes blökte, dass „ab heute die Uhren anders ticken“ würden. Der auf einen Schlag Okocha, Gaudino und Yeboah rausschmiss. Oder 1996, als Frankfurt mit Nationaltorwart Andreas Köpke abstieg und fast kein Spieler einen gültigen Vertrag für die 2. Liga hatte. All das in Verbindung mit der ohnehin schon verwirrenden und mitunter recht depremierenden Pubertät war einfach zu viel. Für das „normale“ Leben gingen schon genug Emotionen drauf – in den blöden Fussball wollte ich nicht noch mehr davon investieren.
Gernot Rohr, dieser Schmierlappen
Dann kam die Saison 1999. Mit dem knorrigen, aber zielstrebigen Trainer Ehrmanntraut gelang der Aufstieg in die Bundesliga, mit einem Kader, der dies eigentlich gar nicht hergab. Und dann er: Gernot Rohr. Feindbild der Eintracht-Fans bis heute, der sogar in einem Asterix-„Mundart“-Band (hessische Edition) negativ erwähnt wurde und somit auf ewig seinen „verdienten“ Eintrag in die gezeichnete Popularkultur gefunden hat.
Der neue Manager kam von Girondins Bordeaux, sollte die Eintracht sanieren und wieder als feste Größe in der ersten Liga etablieren. Dann setzte er zunächst ohne Not Ehrmanntraut vor die Tür (als die Eintracht auf einem Nicht-Abstiegsplatz war), ersetzte ihn durch Reinhold Fanz (ein gaaanz heißer Kandidat für den Titel „Schlechtester Eintracht-Trainer aller Zeiten“), der es schaffte, die Frankfurter auf Tabellenplatz 17 zu führen.
Schließlich musste Gernot Rohr gehen, Fanz ging gleich mit, und der ewige Feuerwehrmann Jörg Berger wurde dessen Nachfolger. Was folgte, war schlicht von einem anderen Stern, da pfeife ich sogar auf den „Fussball 2000“. DAS war Fussball, die Aufholjagd des Jahres! Die Eintracht sammelte Pünktchen um Pünktchen und konnte am letzten Spieltag die Rettung schaffen. Verdammter Mist, da war mein Interesse doch wieder geweckt. Für einen Verein, den ich gar nicht mehr gut finden wollte! Mein Interesse galt dank dem DSF und „LaOla – Fussball International“ eher den ganz Großen: Juve mit Del Piero, Arsenal mit Bergkamp, Barca mit Kluivert, usw.
Aber dieser letzte Spieltag der Bundesliga war besser als jedes medial hochgejazzte Sommermärchen, besser als Man United gegen Bayern 1999, besser als Robert Carlos‘ Jahrhunderttor gegen Frankreich! 5:1 sollte die Eintracht am Ende gewinnen, es reichte für einen dramatischen Klassenerhalt in letzter Sekunde. Die Eintracht erwischte einfach einen Schokoladentag, an dem alles klappte. Sogar der sonst völlig ungefährliche Chen Yang traf, der spätere Nationalspieler Bernd Schneider zog im Mittelfeld ganz cool die Fäden, Marco Gebhardt lupfte den Ball erst mit der Hacke über Jungstar Ballack und drosch ihn dann unhaltbar in den Winkel. Vier Tore in den letzten zwanzig Minuten; die Eintracht nahm das vorweg, was Oliver Kahn ein paar Jahre später zu seinem Mantra erklärte: „Einfach weiter, immer weiter!!“
TOOOOR in Frankfurt!
Wir schauten die Bundesliga-Konferenz damals in einer Düsseldorfer Kneipe, deren Namen ich längst vergessen habe. Aber dem Wirt möchte ich an dieser Stelle auf Knien danken, dass er damals im Besitz eines Decoders war! Die Frankfurt Galaxy spielte an dem Tag zufällig American Football gegen Düsseldorf; die Galaxy-Fans, die zufällig an der Kneipe vorbei latschten und fragten „Wie steht’s denn“, wurden spontan von uns auf zig Runden Düsseldorfer Alt eingeladen (Äppler gab’s ja keinen) und hatten plötzlich nichts mehr mit Football am Hut. Jedesmal verkündete ein anderer Reporter in der Konferenzschaltung „Tooooor in so-und-so.…“, wir sackten zusammen, weil es doch nicht reichte, die Eintracht hatte irgendwie immer ein Tor zu wenig. Dann plärrte wieder jemand „TOOOOOOR in Frankfurt!!!“, wieder Aufspringen, Jubel, Umarmungen, Prost!, noch ne Zigarette. Hin und her, ich bin an dem Tag bestimmt fünf Jahre gealtert.
Und kurz nachdem der Nürnberger Frank Baumann in die Arme von Richard Golz schoss statt ins Tor, entschied sich der Ball im Waldstadion vor die Füße von Jan Age Fjörtoft zu kullern… Und dieser irre Norweger schoss den Ball nicht rein, nein – der machte einen Übersteiger(!), schob ihn unter Andreas Reinke durch, brach sich fast seinen verrückten Hals, als er über den Lauterer Schlussmann stolperte, und das Waldstadion und die namenlose Kneipe in Düsseldorf explodierten.
Ich war der glücklichste 19-Jährige auf der Welt, ich war wieder Eintracht-Fan, ich flippte aus bei dem historischen Sieg eines Vereins, der mir inzwischen egal sein sollte, mit No-Names bestückt war und (mal wieder) einen Vorstand hatte, der sich der Lächerlichkeit preisgab. Aber es ist eben so wie Nick Hornby sagt: Du suchst dir nicht den Verein aus – der Verein sucht dich aus.
Heute bin ich immer noch Eintracht-Fan. Habe den Abstieg 2001 erlebt, Gurkenspiele in der Zweiten Liga gegen Erzgebirge Aue, Alexander Schurs Kopfball zum 6:3 gegen Reutlingen, Christoph Preuß’ Fallrückzieher in den Giebel gegen Oli Kahn, ich war im Stadion beim 4:0 im Europacup gegen Brönby Kopenhagen und beim 1:2 Pokal-Aus gegen Rostock (Rostock!!!), als Caio einen Elfmeter viel zu lässig vergurkte, gucke jede Woche auf der Couch „Brämmährre Wöald“, wie Franz Beckenbauer es ausspricht und kann einfach nicht anders.
Der Grund dafür war das nervenzerfetzensde Bundesligaspiel meines Lebens. Das ist Eintracht Frankfurt, meine einst verschollene, wieder gefundene Hassliebe, ohne die es irgendwie doch nicht geht. Und wer weiß – irgendwann wird es vielleicht wieder so ein Spiel geben, bei dem ich Düsseldorfer Alt trinke, zwei Päckchen Zigaretten rauche und bei dem ich mit meinen Kumpels eine Kneipe irgendwo auf der Welt aus den Fundamenten rocke, weil in der Konferenzschaltung jemand verkündet „TOOOOOOR in Frankfurt!!!!!“.…
2. Platz
Skoubos Erdbeben / Arne Phlipsen über Gladbach – Leverkusen am 30. Spieltag der Saison 2002/03
Etwas in der Art von „Wir sind zufrieden“ wird Thomas Hörster nach dem Spiel erzählen. „Wir wollten primär den Abstand halten und nicht größer werden lassen, das ist uns gelungen.“ Es ist die Saison 2002/2003. Mein Verein, Borussia Mönchengladbach, spielt mal wieder gegen den Abstieg, vorbei die großen Zeiten. Es ist der 30. Spieltag und Gladbach belegt den ersten Nichtabstiegsplatz, während Bayer Leverkusen drei Punkte dahinter zu dem Zeitpunkt den ersten Absteiger stellen würde. Die Leverkusener standen in der Vorsaison noch im Pokal und Champions-League – Finale und verspielten die Meisterschaft, mal wieder, kurz vor Schluss.
Ein knappes Jahr später steht der Verein vor dem Abstieg und Reiner Calmund leidet auf der Tribüne sichtlich mit. Dennoch kommt die Mannschaft mit Stars wie Neuville, Lucio oder Berbatov. Ein sogenanntes Sechs-Punkte-Spiel würde jetzt normalerweise in den Medien zitiert werden. Alles wie immer, mit dem Bus in die Stadt, zu Fuß durchs alte Eicken hoch zum Bökelberg. Doch irgendwie sollte der Tag anders werden als die anderen. Igor Demo bringt die Borussia in der 6. Minute früh in Führung, was bei mir die Hoffnung aufkommen lässt heute einen wichtigen Schritt Richtung Klassenerhalt zu machen. Leider gleicht Bierofka noch vor der Halbzeit aus und kurz nach Wiederanpfiff bringt Berbatov die Leverkusener in Führung, die damit nach Punkten mit der Borussia gleich gezogen wären.
Es regnet, die Jeans färbt die Beine blau – Bökelberg eben
Die Dramaturgie nimmt somit langsam an Fahrt auf. Der altehrwürdige Bökelberg hat inzwischen sein Flutlicht angeschmissen und es schüttet aus Eimern, sodass die Beine später von der Jeans blau gefärbt sein werden. Der Fußball in seiner Reinkultur eben, wie es ihn heutzutage leider viel zu selten noch gibt. Lienen reagiert Mitte der zweiten Hälfte und bringt zunächst Arie van Lent und wenig später Morten Skoubo in die Partie, um doch noch irgendwie das Spiel zu drehen. Ausgerechnet Skoubo denk ich und mit mir wahrscheinlich das halbe Stadion. Kostete um die 2,5 Millionen und hat vorher in 16 Spielen nichtmals ein Scheunentor getroffen.
Die Nachspielzeit bricht an und wie gängig gegen Ende des Spiels wird der Ball noch einmal von der Borussia lange nach vorne geschlagen in Richtung van Lent, in Richtung Nordkurve auf die die Borussia nun zuspielt. Van Lent gewinnt das Kopfballduell (wenn die Erinnerungen stimmen gegen Lucio) und verlängert den Ball zu Skoubo, der damit vollkommen freistehend vor Butt an den Ball kommt. Einer dieser Momente in denen die Welt still zu stehen scheint und man eine Stecknadel fallen hören kann. Dieser Moment wandelt sich nur Sekunden später in eine Lautstärke, wie sie selbst der Bökelberg wohl nicht allzu oft zu hören bekommen hat.
Skoubo trifft in der 90. Minute zum 2:2 Ausgleich, der Borussia automatisch wieder ein Drei-Punkte-Polster auf den Abstiegsplatz bringt und auf den Rängen eine ultimative Ekstase ausbrechen lässt. Nachher werde ich Leute erzählen hören, dass diese sich beim Torjubel einfach nur noch haben fallen lassen. Kurz danach wird abgepfiffen. Skoubo wird danach in den letzten Spielen noch dreimal treffen und die Borussia rettet sich, auch Leverkusen wird sich am letzten Spieltag in Nürnberg noch retten.
Das Tor von Skoubo werde ich Jahre später verzweifelt im Internet suchen und bis heute nirgendwo finden. Ich habe Colautti gegen Schalke oder de Camargo in der Relegation gegen Bochum in der 90. Minute treffen sehen oder zahlreiche schöne und wichtige Siege erlebt. Aber dennoch ist es ein Unentschieden, vielleicht auch verbunden mit den Erinnerungen an den Bökelberg, das dieses Bundesligaspiel zum Moment für die Ewigkeit gemacht haben.
3. Platz
Begegnung der nullvierten Art / Johannes Mittermeier über seinen FC Bayern und Schalker Kutten
Diesen Zweikampf konnte ich nur verlieren. Doch der Gegner beging ein Foul, eine derbe Unsportlichkeit, weil der Ethos fehlte und der Anstand sowieso. Es war Sommer und sie – nein, nicht 31. Alles viel schlimmer. Sie kam aus Gelsenkirchen.
Die Frau guckte so komisch. Irgendetwas schien ihr nicht zu passen. Dann gackerte sie los. Ungefragt. Ließ mir einen Schwall an Verachtung zurück. Hatte ich ihr etwas getan? Offensichtlich ja. Mein Hemd war blütenweiß gewesen, doch jetzt zeugten dunkle Flecken vom föhnigen Gebläse. Es war ein Orkan. Wenn man damals schon gewusst hätte, was ein Shitstorm ist, der Ausdruck hätte sich pionierhaft von der virtuellen auf die reale Welt verselbständigt.
Das Münchner Olympiastadion gehört für mich an wunderschönen Sommertagen zur prädestiniertesten aller Sportstätten. Der 4. August 2001 war so ein wunderschöner Sommertag. Drei Tage zuvor hatten mir meine Eltern einen Umschlag in die Hände gedrückt, der ein Präsent enthielt. Es war mein 11. Geburtstag, und am darauffolgenden Samstag würde ich beim Bundesligaspiel des FC Bayern München live dabei sein dürfen. Zum ersten Mal. Zum allerersten Mal!
Meine großen, braunen Rehaugen leuchteten. Gut, streng genommen habe ich keine großen, braunen Rehaugen. Und auch das Olympiastadion hatte ich bereits von innen gesehen, im Jahr 2000. Aber welchen Wert besaß schon ein in jeglicher Hinsicht belangloser Kick von 1860 München, wenn der FC Bayern, der Verein meines kleinen Herzens, immerzu Lichtjahre entfernt wirkte? Ganz genau: Keinen.
Ein krasser Widerspruch der Geschlechter
Im Mai 2001 hatten die Bayern im hitchcockigsten Elfmeterthriller die Champions League gewonnen. Meine Helden waren der rastlose Derwisch Oliver Kahn, der waidwunde Schnibbelkünstler Mehmet Scholl, das aufgedrehte Energiebündel Brazzo Salihamidzic. Und Giovane Elber, der geniale Stürmerstar aus Brasilien. Als wir am 4. August gen München aufbrachen, trug ich sein Trikot. Das weiße Auswährtsshirt mit der Nummer neun auf dem Rücken. Ich war bereit. Ich war selig.
Die Geschehnisse fallen in eine Ära, die noch eine mehr oder minder strikte Auffächerung der Geschlechtervorlieben voraussetzte. Die Emanzipation der Frau sollte ihren Siegeszug erst ab dem 2006er Weltturnier erfahren. Am Anfang des Jahrtausends war die Rollenverteilung klar geregelt. Die Mutter wandert mit der kleinen Schwester sogleich nach Ankunft in den örtlichen Tierpark, während Vater und Sohnemann schnurstracks zu Bier, Bratwurst und Bundesliga übergehen. Doch meine Familie widersetzte sich den Grundprinzipien fußballerischer Verhaltensnormen, und zwar so frappierend, dass die Erwähnung vollauf gerechtfertigt ist. Vater und Schwester verschlug es in den Zoo, Mutter und mich ins Stadion.
Mein Erzeuger atmete erleichtert auf
Wir waren früh dran, zu früh für die Einlasskontrolle. Heute würden grob geschätzt siebenundneunzigkommafünf Prozent der Wartenden auf technischen Endgeräten, so dünn wie ein Blatt Papier, herumwischen, sie würden facebooken, twittern und mit Apps hantieren. Ich hantierte mit einem Apfel, zwitscherte vor mich hin und wischte mir die Freudentränen aus den Augen. Ich war meiner Zeit weit voraus.
Die Masse vor dem verwitterten Kassenhäuschen verbreiterte ihren Radius minütlich, und eine Heerschar an bunten Partikeln verstärkte ihre Dichte. Die Fußballfans waren nicht wirklich schlecht gelaunt, aber Geduld ist bekanntlich keine Merkmalsausprägung dieser speziellen Gattung. Je länger sich nichts rührte, desto mürrischer nölte das Volk in Richtung der in grellgelben Leuchtwesen gekleideten Ordner. Diese zeigten sich davon ungefähr so beeindruckt wie die Queen‘s Guards am Londoner Buckingham Palace von Grimassenschneidern.
Meiner Mutter und mir sollte unsere Unkenntnis noch leid tun. Wir hatten uns nicht unter gleichgesinnte Bayern-Fans gemischt. Stattdessen waren wir in einen blau-weißen Pulk mit schlechten Manieren und mittelprächtiger Laune geraten. Uns umkreisten Anhänger des FC Schalke 04. Es war der 2. Spieltag der neuen Saison, und jeder, dessen Erinnerungsvermögen halbwegs funktionstüchtig lief, wusste um die Brisanz dieser Partie. Die seelische Nähe zum 19. Mai 2001 brachte den Kessel zum Erhitzen und den Deckel zum zittrigen Tänzeln. Die Gedankenwelt wurde frisch poliert.
Weil sich diese Einstellung nicht bei allen am Vorplatz des Kassenhäuschens durchgesetzt hatte, zogen meine Mutter und ich böse Blicke magnetisch an. Argwohn begleitete uns, falsche Zuckungen hätten das Rüstzeug zur Eskalation besessen. Die ein oder andere grummelige Schimpftirade war nicht für die Ohren eines 11-Jährigen gedacht, doch ich fühlte mich durchaus wohl in meinem Giovane-Elber-Trikot mit der Nummer neun. Der Stoff umschlug mich wie eine zweite Haut, wie ein Schutzpanzer aus Polyester, der mir nichts anhaben konnte.
Bis eine Frau mich erspähte.
Die Dame war wohl um die Fünfzig, obwohl sich das schwerlich bemessen ließ, sie war nicht besonders hoch gewachsen, und ihr kurzes, bräunliches Haar war von roten Strähnen durchzogen. Ihre Augen umzingelte eine ins Gesicht gefräste Armada an Falten. Wenn sie sprach, wurde allein die untere Zahnreihe sichtbar. Sie trug eine Kuttenweste von Schalke 04, die vor Aufnähern überzuquillen drohte. Ihre Jeans war ein vergessenes Relikt der frühen Neunziger, ausgebleicht und nicht sehr körperbetont geschnitten. Ich dankte Gott für diesen Umstand.
Das Fauchen des Säbelzahntigers
Dennoch überkam mich bald ein scheuer Moment der Furcht. Es war ein selten erlebtes Gemisch aus Frust, Stillosigkeit und einem miserablen Gespür für Kinder, als sich die Dame an mich wandte. Ihr Objekt der Abscheu: Mein Trikot. Der Stachel des 19. Mai musste tief sitzen, denn ihre Tonlage vermittelte etwas Abschätziges. Wie ein Feldwebel baute sie sich vor mir auf, wie ein Säbelzahntiger fauchte sie, ehe ihre untere Zahnreihe zu vibrieren begann: „Wie kann man nur so bescheuert sein und so einen Scheiß anhaben!?“ Dann rauchte sie eine Zigarette.
Ich war elf Jahre jung. Ein unschuldiges Geschöpf. Seit jenem 4. August 2001 wünsche ich Schalke 04 nur das Schlechteste. Welch eine Freude war es, als Greuther Fürth im Januar in der Turnhalle gewann. Welch eine Genugtuung wäre eine Rückkehr von Kevin Kuranyi. Träumen ist erlaubt.
Der FC Bayern München rächte seinen diffamierten Fan auf die denkbar angenehmste Weise. Die 63.000 Zuschauer im vollbesetzten Olympiastadion riss es bereits in der 6. Minute aus den Schalensitzen, als Mehmet Scholl einen Pass schlug, wie ihn nur Mehmet Scholl schlagen konnte, und als einem gewissen Claudio Pizarro sein Premieren-Treffer für den Rekordmeister gelang. Nach einer Viertelstunde zirkelte der famose Scholl einen Freistoß aus siebzehn Metern in die rechte Ecke. Torwart Reck verblieb mit einem perplexen Staunen, das fast so ungläubig war wie jenes von Hans-Joachim Watzke bei der Bekanntgabe des Götze-Wechsels, zurück. In der 43. Minute zirkelte erneut der überragende Scholl einen Eckball in die Mitte, wo Niko Kovac das Leder mit Anlauf, mit Köpfchen und mit Glück zwischen Pfosten und Böhme ins Netz wuchtete. In der zweiten Halbzeit wurde Carsten Jancker eingewechselt. Das 3:0 war zementiert.
Mein erstes Bayern-Spiel im Stadion – heute ist es ein Stück Kulturgut, ein Stück Zeitgeschichte. Ein Stück im Theater des Jubels, des Trubels und des Rubels. Vor allem aber ein Stück Lernmaterial in Sachen Umgangsformen.
Auge in Auge, Zahn um Zahn mit dem Tiger. Und wenn es nur die untere Gebissreihe war.