Ein deutscher Fan reist 12.000 Kilometer nach Argentinien, um das Finale der Copa Libertadores live im Stadion zu erleben. Nach sieben Stunden auf der Tribüne wird ihm langsam klar: Er sieht heute kein Fußballspiel mehr, sondern den Tiefpunkt des argentinischen Fußballs.
Jan-Henrik Gruszecki, Sie sind ein bekanntes Gesicht in der Dortmunder Fanszene, haben aber auch lange in Südamerika gelebt und lieben den argentinischen Fußball. Was bedeutet das „Superclasico“ im Finale der Copa Libertadores für Argentinien?
Es ist das größtmögliche Spiel des Kontinents: River Plate und Boca Juniors sind die mit Abstand größten Vereine Argentiniens und kommen beide aus Buenos Aires. Dazu kommt eine uralte Rivalität beider Fanlager, die sich im Kampf der sozialen Schichten begründet. Das Spiel wird „Superclasico“ genannt und ist jedes Jahr das Highlight des argentinischen Fußballkalenders. Als Europäer muss man sich das so vorstellen, als würden zwei Mannschaften von der Größenordnung von Barcelona oder Real Madrid mit einer Rivalität vom Belgradderby aufeinander treffen. Und das alles im Champions-League-Finale. Im eigenen Stadion. Diese atemberaubende Konstellation hat für Ekstase gesorgt.
Wie war die Stimmung im Land in den Wochen vor dem Spiel?
Die Atmosphäre war einmalig. So eine kollektive Vorfreude habe ich noch nie erlebt. Als das Halbfinale abgepfiffen wurde und es sich bestätigte, dass es im Finale tatsächlich zum „Superclasico“ kommen würde, brachen in Südamerika und vor allem in Argentinien alle Dämme. Seit Wochen wurde in den Restaurants, den Kneipen und auf der Straße über nichts anderes geredet. Selbst der G20-Gipfel, der ab Freitag in Buenos Aires stattfindet und normalerweise große Beachtung gefunden hätte, ist in diesem Monat nur eine Randnotiz. Außerdem hat man wahrgenommen, dass diesem Spiel die weltweite Aufmerksamkeit zuteil wurde und sich viele Fernsehsender die Übertragungsrechte sicherten. Das hat die Euphorie für das kommende Fußballfest natürlich weiter gesteigert.
Zu diesem Fußballfest kam es leider nicht. Weil River-Fans den Mannschaftsbus der Boca Juniors mit Steinen attackierten, wurde das Spiel letztendlich abgesagt. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?
Ich hatte eine Eintrittskarte für das Spiel und habe die meiste Zeit des Tages im Stadion verbracht. Die Stadionkontrollen waren so enorm, dass den Fans geraten wurde, bereits vier Stunden vor Anpfiff am Stadion zu sein. Um sicherzugehen, dass alles mit meiner Karte klappt und ich rein komme, war ich also schon um 13:00 Uhr am Stadion. Die Stimmung in der Stadt war den ganzen Tag über schon sehr gereizt. Aber dass es den Angriff auf den Bus gab, haben wie Zuschauer im Stadion nicht richtig mitbekommen. Und so standen wir in der knallenden, südamerikanischen Sonne im unbedachten Stadion – in dem natürlich alle Getränke schon vor dem geplanten Anpfiff ausverkauft waren – und haben auf das Spiel gewartet, das niemals angepfiffen wurde.
Wurde nicht irgendwann angesagt, dass das Spiel abgesagt ist?
Nein. In Argentinien läuft ein großes Finale generell nicht so ab, wie man das aus Europa kennt. Hier gibt es keine Eröffnungsshow oder einen Halbzeitauftritt von Helene Fischer. 30 Minuten vor dem Anpfiff kommen die Mannschaften auf den Rasen um sich aufzuwärmen, später gibt es das Spiel und anschließend die Siegerehrung. Da es also sowieso keine durchorganisierte Beschallung gegeben hätte und man so gut wie keinen Internet-Empfang im Stadion hat, haben wir erst spät erfahren, dass irgendetwas nicht stimmt.
Wann denn?
Im Laufe des Nachmittags wurde das Spiel immer weiter in den Abend verschoben. Später kam raus, dass zu dem Zeitpunkt schon feststand, dass das Spiel an dem Tag nicht mehr stattfinden wird. Vom Stadionsprecher kamen dazu aber keine Informationen. Alles, was wir wussten, wussten wir durch Twitter oder Handy-Nachrichten von Freunden, die das Spiel im Fernsehen schauten. Irgendwann sickerte dann auf den Rängen durch, dass einige Spieler durch den Busangriff verletzt wurden und dass sich beide Mannschaften weigern aufzulaufen. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als nach sieben Stunden Wartezeit wieder nach Hause zu fahren.
Ist daraufhin Unruhe im Stadion ausgebrochen?
Überhaupt nicht. Ich war ehrlich gesagt überrascht, wie ruhig es im Stadion blieb. Die Fans sind mit einem resignierten Schulterzucken aus dem Stadion getrottet. Es machte sich eher ein Schamgefühl breit. Alle wussten, dass das Spiel in fast allen Ländern übertragen werden sollte. Ich habe viele enttäuscht murmeln gehört: „Mensch, leben wir in einem Scheißland! Hier kann nichts organisiert werden.“ Und auch ich muss leider sagen, dass man mit dieser desaströsen Polizei solche großen Spiele nicht in Argentinien ausrichten kann.
Die Steine wurden aber auf den Mannschaftsbus wurden doch aber nicht von der Polizei geworfen.
Aber die Polizei hatte nur eine einzige Aufgabe. Da aus Sicherheitsgründen in Argentinien schon seit Jahren keine Gästefans in den Stadien zugelassen werden, kommt es im Umfeld des Stadions eher selten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen verschiedener Fanlager. Die einzige Aufgabe der Polizei war es also, den Mannschaftsbus der Gästemannschaft vom Hotel zum Stadion zu eskortieren. Und diese Aufgabe hat die Stadtpolizei von Buenos Aires an diesem Nachmittag nicht auf die Reihe bekommen.
Warum nicht?
Nicht nur, dass die Route im Vorfeld allen Fans bekannt war, sie führte zu allem Überfluss auch noch direkt an den Eingängen der River-Fanszene vorbei. Das ist so, als würde vor dem Revierderby bekannt werden, dass der Schalkebus an den Eingängen der Südtribüne vorbeifährt. Da würden sich bestimmt auch einige Fans bereit machen, den Bus unschön Willkommen zu heißen. Die Szenen an dem Nachmittag waren natürlich katastrophal, aber auch ein stückweit erwartbar. Und vor allem: vermeidbar. Noch am selben Tag wurden Konsequenzen gezogen und der Sicherheitsminister von Buenos Aires wurde entlassen.
Hier in Deutschland hat man danach von Straßenschlachten gelesen. Es wurde geschrieben, dass der Tag von Gewalt überschattet wurde. Wie haben Sie das vor Ort wahrgenommen?
Die Stimmung war angespannt, ohne Frage. Aber der Tag wurde meiner Meinung nach nicht von Gewalt überschattet. Wobei: Die Polizei hat mal wieder – das ist in Argentinien leider üblich – bei der ersten Gelegenheit mit Gummigeschossen auf Fans gefeuert. Was ich später in den europäischen Medien von einem „rechtsfreien Raum“ gelesen habe, kann ich überhaupt nicht bestätigen. Die Attacke auf den Bus war natürlich scheußlich, aber die Situation in der Stadt war danach durchgängig unter Kontrolle.
Was sind die Folgen für den südamerikanischen Fußball?
Was die zukünftige Vermarktung angeht, ist das für den Conmebol, den Verband, ein Desaster. Es war das erste Mal überhaupt, dass die Fußballwelt auf Vereinsfußball außerhalb Europas geguckt hat. Noch nie lag der Fokus so stark auf zwei argentinischen Mannschaften. Und ausgerechnet jetzt passiert so eine Katastrophe. Es war die große Chance, den argentinischen Vereinsfußball in der restlichen Welt mehr zu etablieren. Jetzt werden sich die großen europäischen Sender in Zukunft zweimal überlegen, ob sie sich die Rechte für so ein Spiel kaufen. Für die Wahrnehmung des argentinischen Fußballs im Ausland ist das der absolute Tiefpunkt.
Argentinien will sich zusammen mit Uruguay und Paraguay für die Weltmeisterschaft 2030 bewerben. Könnte dieses Desaster Auswirkungen auf die Bewerbung haben?
Das ist das vielleicht noch größere Problem. Der argentinische Staatspräsident Mauricio Macri hat für das Finale den FIFA-Präsidenten Gianni Infantino nach Buenos Aires eingeladen. Das Spiel hatte eine maximale Ausstrahlungskraft auf das Land und damit auch auf Macri. Er wollte die Gunst der Stunde nutzen und der FIFA zeigen, dass Argentinien sehr wohl große Spiele austragen kann. Das ging natürlich nach hinten los. Infantino war nach der Spielabsage außer sich. Er hat angeblich versucht, durch Strafandrohung das Spiel am Sonntag durchzusetzen. Er ist schließlich nur für das Spiel über den Atlantik geflogen. Aber ohne Erfolg. Die Copa Libertadores ist eine Angelegenheit des Conmebols, da hat die FIFA keine Entscheidungsgewalt. Dass das Spiel überhaupt verlegt werden musste, könnte aber für die Bewerbung auf die Austragung der WM 2030 üble Folgen haben.
Wie geht es jetzt weiter? Können sich die Fans nach dem vergangenen Wochenende überhaupt noch auf die Neuansetzung freuen?
Ich denke schon. Ich will auf jeden Fall, dass sie spielen. Meine Eintrittskarte lacht mich immer noch an und möchte eingesetzt werden. Aber wenn man in Argentinien lebt, gewöhnt man sich daran, nicht nur von Tag zu Tag, sondern von Stunde zu Stunde zu denken. Vorgestern gab es eine Pressekonferenz im nationalen Fernsehen, in der alle Fragen geklärt werden sollten. Seitdem haben sich die Informationen schon oft wieder geändert. Der Boca-Präsident sagte, dass seine Mannschaft auf keinen Fall noch mal auflaufen wird. Er will, dass das Finale am grünen Tisch entschieden wird. Man muss aber abwarten, ob er das wirklich durchzieht. Momentan ist geplant, dass das Spiel am 8. oder 9. Dezember irgendwo im Ausland stattfinden soll. Nicht mal das genaue Datum oder der Austragungsort steht fest. Viele Fans würden sich bestimmt freuen, wenn die Conmebol das demnächst mal festlegen könnte. „Stand jetzt“ soll das Spiel ausgetragen werden. Aber das heißt bekanntlich gar nichts im Fußball. Und schon gar nicht in Argentinien.