Kämpfte Peter Disztl gegen einen Bären? Verlor Nobby Stiles seine Zähne bei einer Kneipenschlägerei? Wie schnell war Hans-Peter Briegel wirklich? Früher steckten große Turniere voller Geheimnisse. Heute weiß man alles. Leider.
Vor einigen Tagen stellte der britische Guardian ein neues Riesenprojekt vor. Mit der Hilfe weiterer internationaler Medien hat er auf seiner Homepage sämtliche 622 EM-Spieler porträtiert. „Alles, was Sie wissen müssen über die Spieler“, steht dort, „inklusive ihrer Haustiere, Hobbies und Helden.“ Und, na klar, da klickt man natürlich rein.
In kurzen Texten erfahren wir hernach Altbekanntes über Superstar Kylian Mbappe („Sein Signature-Jubel war die Idee seines Bruders“), mittelmäßig Interessantes über Leroy Sané („Er mag Fashion“) und Dinge vom dritten nordmazedonischen Torhüter Damjan Siskovski, die ich (hoffentlich) am Ende dieses Textes wieder vergessen haben werde: „Er will immer singen, obwohl er es nicht kann. Wir haben Spaß mit seiner Musik-Show.“
„Heute kann der Trainer dem Verteidiger sogar sagen, welches Rasierwasser der gegnerische Stürmer verwendet.“
Dank des Internets gibt es nur noch wenige Geheimnisse vor großen Fußballturnieren. „Heute kann der Trainer dem Verteidiger sogar sagen, welches Rasierwasser der gegnerische Stürmer verwendet“, sagte Otto Rehhagel schon vor zehn Jahren. Und wenn man es doch nicht weiß, weiß man zumindest, wo es steht. Im Internet können wir den Punkteschnitt des slowakischen Trainers Stefan Tarkovic bei seinem alten Klub MSK Zilina recherchieren. Wir wissen, wie man die Namen Adam Szalai und Roland Sallai ausspricht. Wir erfahren, wo Schwedens Co-Trainer Peter Wettergren früher gespielt hat, wie hoch der Marktwert von Ungarns Attila Fiola vor drei Monaten war, und irgendwo kann man bestimmt auch sehen, ob Nordmazedoniens Ivan Tričkovski wirklich so trickreich spielt, wie sein Name vorgibt. Wir verstehen das Spiel, entschlüsseln Taktiken, knacken Fußballrätsel – zumindest haben wir das Gefühl.
Andererseits macht diese Überinformation ein großes Fußballturnier auch ein wenig gläsern und langweilig, vielleicht sogar überraschungsarm, denn „das Schönste, was wir erleben können, ist doch das Geheimnisvolle“, schrieb Albert Einstein.
Früher wusste man vor einer EM oder WM nahezu nichts. Die Informationen waren gut versteckt in den Büchern der Trainer. Einige Informationen gab es schlicht noch gar nicht (Laufwerte, Signature-Jubel). Die meisten Informationen aber lagen getarnt hinter dem eisernen Vorhang. Es war die totale Reizunterflutung. Ein paar Schnipsel aus Tageszeitungen und im Kicker, Fernsehberichte auf zwei Kanälen und die oft bizarren Klebebilder. Mut zur Lücke auf allen Ebenen – zur Wissenslücke, zur Haarlücke, zur Zahnlücke. Im Laufe der Turnierwochen entstand dadurch eine mysteriöse Landkarte des internationalen Fußballs, eine faszinierende Märchenwelt.
Die ersten Hinweise gaben die Panini-Bilder. Schon Wochen vor dem Turnier blickte man mit einer Mischung aus Angst, Neugier und Irritation auf Sticker von Peter Disztl (Magyarország), Ray Richards (Australia) oder Rinat Faisrachmanowitsch Dassajew (CCCP). Wer waren diese Männer, von denen einige aussahen wie Typen, die in schrägen B‑Movies mit Bären kämpften oder Kneipenschlägereien anzettelten? Es gab kaum weiterführende Informationen. Einsätze, Alter, Tore, das war’s im Grunde. Irgendwo standen noch die Vereinsnamen, die man allenfalls aus den hinteren Seiten des „Kicker“ kannte: FC St. Mirren, Dnjepr Dnjepropetrowsk, Thor Waterschei. Wer das Hanuta- oder Duplo-Album hatte, wusste immerhin ein paar mehr Dinge über die deutschen Spieler. Horst Hrubeschs Lieblingsessen zum Beispiel (Eintopf) oder Thomas Bertholds Lieblingssängerin (Nicole).
Die Interviews zu den Turnieren hatten oft etwas Dadaistisches. Auf die Frage, worüber er sich riesig freue, antwortete Hans-Peter Briegel vor der WM 1986: „Ich freue mich nie riesig.“ Wovor er Angst hat? „Vor vielen Dingen.“ Was er lieber im Fernsehen schaut, Denver-Clan oder Dallas? „Ich mag keines von beiden.“
Man ging unbedarft und naiv in ein Turnier, vielleicht auch sorgloser als heute. Trotzdem wirkten viele Spieler wie alte Vertraute, wenn sie irgendwann auf dem flimmernden Röhrenfernseher auftauchten. Der hünenhafte Bulgare vom Paninibild. Der furchtlose Holzfäller aus der CSSR. Der verruchte Zahnlose aus Schottland. Der würdevolle Haarkranzträger aus Holland. Und natürlich der einsilbige Briegel, der, so merkte man jetzt, einfach keine Zeit für Geschwafel und Interviews hatte, er musste schnell rennen. Verdammt schnell. Wie ein 100-Meter-Läufer. Nur einmal, im Finale 1986, kam er zu spät. Immerhin, er war so nah an Jorge Burruchaga, dass er sicherlich noch heute dessen Rasierwasser in der Nase hat.
Jedenfalls, morgen spielt Nordmazedonien. Ich wünschte, ich wüsste nichts. Ich wünschte, ich könnte dieses Spiel anschauen wie einen dieser alten Fußball-B-Movies, von dem man sich überraschen lässt. Durchgeknallte Handlungsreisende, geniale Außerirdische, verrückte Wissenschaftler, Tore aus 70 Metern, Magier, die in 97. Minute per Eckball treffen. Aber ich weiß schon viel zu viel. Ich weiß, dass die Mannschaft in den vergangenen 14 Spielen nur zweimal verloren hat. Ich weiß, dass der eigentliche Topstürmer Ilija Nestorovski von Udinese Calcio mit einem Kreuzbandriss ausfällt. Ich weiß, dass sein Ersatz Aleksandar Trajkovski in der vergangenen Saison für RCD Mallorca kein einziges Tor gemacht hat. Und leider weiß ich immer noch, dass der dritte Torhüter Damjan Siskovski gerne singen möchte, obwohl er es nicht kann. Ich hoffe sehr, ich habe diese Information morgen wieder vergessen.