Dr. Müller-Wohlfart ist der berühmteste Mannschaftsarzt Deutschlands. Nun hört er auf. Was wenige wissen: „Dr. Mull“ war auch Held eines populären Groschenromans. Wir veröffentlichen exklusive Auszüge.
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Dr. Mull liebte die morgendliche Fahrt von Starnberg hinein in die Stadt. Hier konnte er endlich einmal die eingegangenen elektronischen Nachrichten beantworten, telefonieren, Zeitung lesen – und all das, während er auf der gut ausgebauten Landstraße auf 140 beschleunigte.
Schon wieder klingelte das Mobiltelefon. Dr. Mull warf einen schnellen Blick aufs Display. Seine Tochter! Er meldete sich launig „Wie geht es Lothar?“ Vor Jahren hatte sich die Tochter mit einem Parvenu aus der Fußballszene eingelassen. Seither zog er sie mit dieser unsäglichen Affäre auf. Aber seine Tochter verstand eine Menge Spaß. Dass plötzlich nur noch ein Besetztzeichen zu hören war, schrieb er leichthin der schlechten Funkverbindung in und um Gauting zu.
Gefahren einer Schmierinfektion
Eine Viertelstunde später kurvte der gutaussehende Sportmediziner elegant die Einfahrt seiner Praxis hinauf und überließ es wie üblich einem Angestellten, den Wagen in der Garage zu parken. Nach einem schnellen Espresso, den Dr.Mulls reizende Assistentin Florence frisch aufgebrüht hatte, als sie das sonore Brummen seines Sportwagens vor dem Haus vernommen hatte, widmete er sich seinem ersten Patienten.
Ein Bundesligaprofi, vielleicht 19 Jahre alt, saß im Behandlungsraum. Dr. Mull ignorierte die Hand, die der junge Mann ihm entgegenstreckte, schließlich wusste der erfahrene Mediziner um die Gefahren einer ordinären Schmierinfektion. Er studierte das Röntgenbild und erkannte auf dem ersten Blick die leichte Zerrung im linken Oberschenkel. In zwei, drei Tagen würde der Patient wieder beschwerdefrei trainieren können. Aber, schmunzelte Dr. Mull innerlich, es sollten ja schließlich alle etwas von der Visite haben. Nun begann das, was sie in der Praxis, wenn der Chef gerade nicht zuhörte, die große Mull-Show nannten. „Ich will ganz offen zu Ihnen sein“, erklärte er dem jungen Mann mit besorgter Miene. „Normalerweise müsste ich Sie drei Monate krankschreiben.“ Der Profi richtete sich entsetzt auf. „Aber ich will sehen, was ich für Sie tun kann“. Dr. Mull füllte mit schnellen Strichen ein Rezept aus. „Nehmen Sie das dreimal täglich, dann sind Sie übermorgen wieder fit.“ Dann komplimentierte er den überaus dankbaren Patienten sanft hinaus und lehnte sich zufrieden zurück. Schwester Florence steckte kurze Zeit später den Kopf zur Tür hinein. Mit mildem Spott fragte sie: „Haben Sie ihm wieder Ihr Nahrungsergänzungsmittel verschrieben?“ Dr. Mull schmunzelte vergnügt: „Es bot sich an!“ Die adrette Arzthelferin schloss kichernd die Tür. Versonnen blickte ihr der Mediziner nach. Er schätzte ihre Jugend und den Umstand, dass sie sich, obwohl gebürtig aus Leipzig, redlich mühte, mit französischem Akzent zu sprechen.
Ja, die Nahrungsergänzungsmittel. Ein kleines Vermögen hatten ihm die unscheinbaren Wunderkapseln schon eingebracht. Und das ohne jede medizinische Wirkung. Das musste ihm erst einmal jemand nachmachen. „Die antioxidative Schutzwirkung kann sich erst im Zusammenspiel aller Radikalfänger richtig entfalten“, rezitierte er auswendig aus der Werbung. Auf so etwas musste man erst einmal kommen. Er klopfte sich zunächst mit der linken Hand auf die rechte Schulter, dann mit der rechten Hand auf die linke Schulter. Gut gemacht, Dr. Mull!
Ein inoperabler Knorpelschaden aus Hoffenheim
Ein schneller Blick auf die Breitling-Uhr. Schon elf Uhr durch! Ein langer Arbeitstag neigte sich dem Ende zu. Dr. Mull verließ die Praxis, nicht ohne einen flüchtigen Gruß ins Wartezimmer. Er sah schließlich stets auch den Menschen, nicht nur die Verletzung. Aber um das doppelte Kreuzband aus Freiburg und den inoperablen Knorpelschaden aus Hoffenheim würden sich die Assistenten kümmern müssen. Dr. Mull ließ sich in seinen Wagen fallen und warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel. Seine Frisur war ein wenig in Unordnung geraten.
Die Miene des renommierten Sportmediziners verdüsterte sich. Er würde vor dem Lunch beim Käfer doch noch einmal einen Coiffeur aufsuchen müssen. Nein, Dr. Mull war keinesfalls eitel, er achtete lediglich penibel auf sein Äußeres, dem er, da war er sich einig, einen Großteil seines stupenden Erfolgs verdankte. Nicht nur in der täglichen Arbeit, auch in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, deren Vertrauensarzt er seit langen Jahren war. Bei jedem Länderspiel saß er neben dem ebenfalls perfekt frisierten Bundestrainer auf der Ersatzbank. Und war er anfangs noch reichlich ungelenk auf den Rasen gesprungen, um verletzte Spieler zu betreuen, so bewegte er sich inzwischen mit der Leichtigkeit eines jungen Lipizzaners über das Feld. Dass sich in dem Koffer außer einer Dose Eisspray nur eine Rundbürste und zwei Dosen Taft befanden, sollte auch in Zukunft Dr. Mulls kleines Geheimnis bleiben
Dabei war unser Mediziner weiß Gott kein Fußballfan. Er hielt die Fußlümmelei für eine Zumutung und die Faszination, die dieses Spektakel auf die gebildeten Stände ausübte, für einen gesellschaftlichen Irrweg. Und doch hatte ihm diese Arbeit ungeahnte Popularität verschafft. Dass er seither immer wieder auch von attraktiven Frauen auf der Straße angesprochen wurde, nahm er schmunzelnd hin. Es bedeutete ihm nichts. Und es war nur professionell gewesen, dass er recht bald einen Stoß Autogrammkarten hatte anfertigen lassen, auf denen er, wie er fand, ausnehmend gut getroffen war. Das zeitlos schulterlang getragene Haar, durch eine kunstfertig aufgebrachte Tönung in tiefem Schwarz gehalten.
Natürlich, er würde sich auch in Zukunft vorsehen müssen. Die Konkurrenz schlief nicht. All die ehrgeizigen jungen Kollegen! Ausgehungerten Hyänen gleich warteten sie nur auf ein Anzeichen von Schwäche. Wie im letzten Jahr, als er einen Muskelriss beim holländischen Stürmer der Münchner Bayern übersehen hatte, weil die brave Florence seinen Espresso ausgerechnet auf der Röntgenaufnahme abgestellt hatte. Er hatte ihr nicht lange böse sein können. Und doch war da niemand, dem er seine Nachfolge zugetraut hätte. Wer konnte allein durch bloßen Augenschein treffsicher den Unterschied zwischen Innenbandabriss und offenem Bruch erkennen? Er nicht, die anderen aber auch nicht!
„Reizung des Syndemosebandes. Das hab‘ ich selbst erfunden.“
Das Klingeln seines Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Das würde die Tochter sein, die sich für ihr ungebührliches Verhalten vorhin entschuldigen wollen würde. Ohne das Tempo seines Sportwagens unnötig zu drosseln, durchquerte er eine Spielstraße und nahm dann den Anruf entgegen. „Wie geht es Lo …“, begann er, aber es war nicht das Fräulein Tochter, sondern ein junger Hoffnungsträger aus dem rheinischen Leverkusen. „Hakan, wie schön dich zu hören!“ Aber der Jungspund war nicht zum Plaudern aufgelegt. Er fragte, wie schon so oft in dieser Spielzeit, nach einer Krankschreibung. Aber in solchen Dingen konnte Dr. Mull sehr streng sein. Der Eid des Hippokrates bedeutete ihm sehr viel. „Drei Wochen“, beschied er den Anrufer. „Diagnose: Reizung des Syndemosebandes. Das hab‘ ich schließlich 1997 selbst erfunden.“ Dr. Mull legte vergnügt auf. Unvergessen, wie er mit diesem Geniestreich damals die Praxis gerettet hatte.
Zehn Minuten später fuhr er beim Käfer vor. Im Verkaufsraum herrschte das übliche Gedränge. Dr. Mull musste über die stockeitle Münchner Gesellschaft schmunzeln, die sich vor den Vitrinen ein Stelldichein gab. Er verstand sich, ungeachtet seiner Popularität, als ganz normaler Mensch. Er wollte keine Privilegien. Und war doch enttäuscht, dass die Bedienungen ihn nicht an der Schlange vorbei nach vorne baten, obwohl sein Kommen zuvor mehrfach durch Mitarbeiter seiner Arztpraxis angekündigt worden war. Zumal nun auch noch der Assistent dieses spanischen Parvenus nach vorne durchgewinkt wurde. Zorn stieg im beliebten Mediziner auf. Diese Intrige, fein gesponnen vom Käfer und der katalonischen Mafia, brachte das Fass zum Überlaufen. Noch heute würde er zurücktreten, alles hinwerfen. Er griff zum straßbesetzten Telefon…