Wohin steuert die Diskussion über Gewalt im deutschen Fußball? Für unsere Dezember-Ausgabe sprachen wir mit DFL-Geschäftsführer Christian Seifert über die Ultraszene, Pyrotechnik und Vereinsfunktionäre auf der Jagd nach Sympathiepunkten.
Christian Seifert, seit 2005 sind Sie Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga. Nun hat der Ligaverband Ihren Vertrag bis 2017 verlängert. Hätten Sie geglaubt, dass Sie solange dabei seinwürden?
Es ist bei solchen Jobs üblich, mit Zeitverträgen zu arbeiten. Insofern habe ich gar nicht darüber nachgedacht, was 2017 sein würde. Stattdessen ging es für mich erst einmal darum, in meinem neuen Arbeitsbereich trittsicher zu werden.
Wann hatten Sie das Gefühl, wirklich im Fußball angekommen sein?
Was heißt schon ankommen? Wie Millionen anderer Kinder habe ich in der E‑Jugend angefangen zu spielen. Und weil es bei uns in Rastatt keine Fahnen von Borussia Mönchengladbach gab, habe ich mir damals ein Gladbach-Badehandtuch aus dem Otto-Katalog bestellt, an einen Besenstiel getackert und aus dem Fenster gehalten. Es brauchte kein Erweckungserlebnis. Ich habe auch bei der DFL niemandem die Hand geschüttelt und fühlte mich anschließend erleuchtet. Aber warum fragen Sie?
Weil Sie für einen Fußballfunktionär einen eher unüblichen Werdegang haben.
Der Begriff „Fußballfunktionär“ klingt bei Ihnen fast ein bisschen abschätzig. (lacht)
Wir bedauern, wenn dieser Eindruck entstanden sein sollte. Es war dennoch 2005 eine mutige Entscheidung, bei der Besetzung eines hochkarätigen Managerpostens nicht auf einen Manager aus der Liga zurückzugreifen, sondern auf Sie, der bis dahin vor allem in der Medien- und Musikbranche gearbeitet hatte.
Auf den ersten Blick mag das überraschen. Auf den zweiten Blick haben Musik und der Fußball durchaus Ähnlichkeiten. Vor allem bewegt man sich hier wie dort in hoch emotionalen Umfeldern.
Schwer zu glauben, dass es im Musikgeschäft zugeht wie im Fußball, wo Trainern oder Spielern öfter mal die Sicherungen durchbrennen.
Täuschen Sie sich mal nicht. Ich habe bei MTV so manchen Label-Manager erlebt, der den Tränen nahe war, weil der Star, den er zu betreuen hatte, ausflippte, plötzlich Stimmen hörte oder der Meinung war, sich für ein paar Jahre nach Indien zurückziehen zu müssen.
Sie haben im Frühjahr der Liga den lukrativsten Fernsehvertrag ihrer Geschichte verschafft. In den europäischen Wettbewerben stehen die deutschen Klubs gut da. Doch in der Öffentlichkeit findet vor allem ein Thema statt: die vermeintlich ständig zunehmende Gewalt im Profifußball.
Natürlich finden Ausschreitungen wie vor kurzem beim Spiel Hannover 96 gegen Dynamo Dresden inzwischen einen immensen Widerhall in den Medien. Fakt ist: Es darf keinen Zweifel daran geben, dass man ein Stadion besuchen kann, ohne Angst zu haben. Deshalb gab es beim DFB die „Taskforce Sicherheit“, in der erstmals wirklich alle beteiligten Gruppen gemeinsam an einem Tisch gesessen haben. Und deshalb wurde aus den Reihen der Liga ein Konzept erarbeitet, um sich dieses Themas anzunehmen.
Kaum war das Papier auf dem Markt, meldeten sich mehrere Vereine öffentlich zu Wort, mit teilweise harscher Ablehnung. Da war von der viel beschworenen Solidargemeinschaft wenig zu sehen.
Bei dieser Einschätzung kann ich Ihnen nur Recht geben. Wie die Kritik teilweise geäußert wurde, hat mich geärgert. Das Konzept war ja ausdrücklich als Diskussionsgrundlage angekündigt worden, mit der Bitte an die Klubs, es zu prüfen und Kritik, Änderungswünsche oder Alternativen zu präsentieren. Es geht nicht um Fraktionszwang. Aber ob man seine Stellungnahme mit einer knalligen Pressemitteilung garnieren muss, stelle ich massiv in Frage. Dass einzelnen Vereinsvertretern offenbar weniger daran gelegen war, gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten, als bei einigen Anhängern ein paar Sympathiepunkte zu sammeln, stimmt mich nachdenklich. Denn das Papier ist ja nicht von anonymen Experten erstellt worden, sondern von Kollegen und Praktikern aus den Vereinen.
Auf der Mitgliederversammlung der Bundesligaklubs im September schien noch große Einigkeit zu herrschen.
Das Sicherheitskonzept ist während der Sitzung der Klubs vollständig vorgetragen worden. Nach jedem Punkt hat Reinhard Rauball in die Runde geblickt und um Nachfragen oder Kritik gebeten. Das Papier ist am Ende als Arbeitsauftrag für den Ligavorstand einstimmig beschlossen worden.
Tatsächlich einstimmig?
Der FC St. Pauli und Union Berlin hatten Vertreter geschickt, die nicht abstimmungsberechtigt waren.
Es muss Ihnen doch zu denken geben, wie entschieden die geplanten Maßnahmen von den Anhängern abgelehnt werden. Die wollten Sie doch mit ins Boot holen.
Werden sie tatsächlich so entschieden abgelehnt? Ich habe den Eindruck, dass ein Großteil der Zuschauer und Fans Verständnis für Maßnahmen hat, die den Stadionbesuch sicherer machen. Nur artikuliert sich die breite Masse weniger öffentlichkeitswirksam, als es organisierte Fans tun. Es ist ja ohnehin problematisch, dass niemand weiß, wie viele Fans eigentlich durch diese Initiativen vertreten werden.
Ein Problem, das niemand lösen kann. Fankurven sind keine repräsentative Demokratie.
Demokratische Rechte werden aber sehr häufig eingefordert. Die 50+1‑Regel zielt ja gerade auf die demokratische Teilhabe in einem Klub ab. In der aktuellen Diskussion habe ich aber den Eindruck, dass es vor allem um die Rechte und Privilegien einer relativ kleinen Gruppe geht, und nicht um die Interessen aller Zuschauer im Stadion. Ich finde es gut, dass man seine Ansprüche artikuliert. Es geht in einer Demokratie aber auch darum, Mehrheiten zu akzeptieren.
Die Fankurven argumentieren aber nicht zu Unrecht, dass sie in spezieller Weise zur Stimmung in den Stadien beitragen, und dass sie mit besonderer Leidenschaft hinter dem Klub stehen.
Das stimmt zweifelsohne. Leidenschaft kann sich aber in ganz unterschiedlichen Formen ausdrücken. Und ich möchte keinen Unterschied machen zwischen Ultras in der Kurve und einem Achtjährigen, der zum Geburtstag ein Trikot seines Lieblingsvereins geschenkt bekommen hat und nun vor Aufregung nicht schlafen kann, weil er am nächsten Samstag das erste Mal ins Stadion geht. Ich mag die Echte-Fans- und Nicht-Echte-Fans-Diskussion nicht.
Der Fankongress, der Anfang November in Berlin stattfand, hat versucht, ein breites Stimmungsbild zu zeichnen. Hat der Kongress den Dialog befördert?
Ich finde, ja. Es gab konstruktive Ansätze, die man aufnehmen kann. Aber entscheiden müssen diejenigen, die gewählt sind und in der Haftung stehen. Das sind die Vereinsgremien.
Das DFL-Konzept wird vielleicht auch deshalb so entschieden abgelehnt, weil den Verbänden und Vereinen in der Gewaltdiskussion bislang vor allem mehr Strafen und mehr Überwachung eingefallen sind. Ist die Gewalt zu besiegen, ohne dass aus den Stadien Hochsicherheitstrakte werden?
Das muss das Ziel sein. Grundvoraussetzung ist allerdings, dass die Anhänger sich an geltende Gesetze halten. Bengalfackeln im Stadion zu zünden, ist und bleibt verboten, weil die Gesundheit der anderen Zuschauer gefährdet wird. Und da hilft dann auch das Argument nicht weiter, Bengalos seien ein Ausdruck persönlicher Freude. Wenn ich mit Tempo 130 durch eine geschlossene Ortschaft brettere, ist das vielleicht auch ein Ausdruck von Freiheit und trotzdem völlig zu Recht verboten.
Einige Punkte des neuen Sicherheitskonzepts werden besonders kritisiert, die sogenannten „Personen-Körperkontrollen“ in Zelten am Stadioneingang, aber auch das ausdrückliche Beharren auf Kollektivstrafen bei Fehlverhalten der Anhänger.
Hier hat sich eine Diskussion verselbständigt, bei der die Fakten verzerrt werden. Bei nüchterner Betrachtung ist das Thema weit weniger brisant, als es derzeit erscheint. Ich verstehe aber die Sensibilitäten. Grundsätzlich gilt: Lösungen funktionieren nur auf regionaler und lokaler Ebene, und dort nur in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten, auch den Fans.
Über Gewalt in den Stadien wird schon seit den Siebzigern debattiert. Damals waren es Rocker, später Hooligans, heute werden pauschal Ultras für Gewalttaten verantwortlich gemacht.
Ganz sicher ist nicht jeder Ultra ein Gewalttäter. Leider bezeichnen sich aber manche Gewalttäter als Ultras. Es muss im Interesse der aktiven Fans liegen, diese Verbindung zwischen Ultras und Gewalt erst gar nicht aufkommen zu lassen.
Bemerkenswert übrigens, dass in den Stadien nur der DFB geschmäht wird. Provokant gefragt: Ist die DFL nicht satisfaktionsfähig?
Nicht, dass wir gesteigerten Wert darauf legen würden, auch beschimpft zu werden. Aber es ist ja klar, dass der DFB als Dachverband, dem auch noch die Sportgerichtsbarkeit untersteht, besonders im Fokus steht. Und Feindbilder sind eben hartnäckig. Das ist wie in James-Bond-Filmen, da war über Jahrzehnte auch immer der Russe der Böse.
Hätte sich die DFL in der Gewaltdiskussion nicht häufiger mäßigend zu Wort melden müssen, etwa als der Platzsturm von Düsseldorf in den Medien zum Bürgerkriegsszenario mutierte?
Wären wir denn durchgedrungen? Ich glaube, wir haben an den richtigen Stellen klar Position bezogen. So haben Ligapräsident Rauball und andere Ligavertreter zum Beispiel immer wieder betont, dass für die Klubs die Abschaffung der Stehplätze nicht in Frage kommt.
Haben Sie nicht dennoch die Chance verpasst, die Stellung der DFL zu stärken? Sie hätten ja den Fußball und die Anhänger etwa gegen den Radikalismus mancher Polizeigewerkschaftler verteidigen können.
Es ist nachlesbar, dass auch die DFL hierzu eindeutig Stellung bezogen hat. Glauben Sie mir: Die DFL hat sehr klare Meinungen, was für die Liga gut ist und was nicht – egal, ob wir über die Bundesliga als sportlichen Wettbewerb oder als gesellschaftliche Institution sprechen. Als Tochtergesellschaft des Ligaverbandes sagen wir das aber nicht immer öffentlich, sondern diskutieren dies intern.
Bayern-Präsident Uli Hoeneß hat in 11FREUNDE prognostiziert, in zehn Jahren werde die Bundesliga Europa beherrschen.
Da bin ich etwas vorsichtiger. Die englische Premier League werden wir, was den Umsatz angeht, nicht so schnell einholen. Aber die Bundesliga steht gut da. Das betrifft nicht nur die sportliche und finanzielle Situation, sondern auch viele andere Faktoren. Etwa den Umstand, dass bei uns wirklich alle gesellschaftlichen Gruppen ins Stadien gehen.
Gefühlt geht es für die Bundesliga seit Beginn der neunziger Jahre ständig nach oben. Zuschauerrekorde, mehr Geld vom Fernsehen. Ist der Boom dennoch endlich?
Auch der Fußball ist abhängig von äußeren Einflüssen. Eine tiefgreifende und langanhaltende Wirtschaftskrise könnte womöglich dazu führen, dass die Sponsoren weniger investieren und die Leute das Geld zusammenhalten müssen. Aber davon abgesehen ist die Bundesliga sehr stabil und hat als Wettbewerb einen Wert an sich. Sky wird für die Übertragungsrechte der Bundesliga ab der Saison 2016 / 17 mehr als 450 Millionen Euro ausgeben, ohne die 18 Klubs zu kennen, die dann dort spielen werden.
Der FC Bayern, Dortmund und Schalke werden schon dabei sein.
Davon gehe ich auch aus. (lacht) Natürlich werden das tragende Säulen sein. Worum es mir aber geht, ist etwas anderes. Wenn ein Klub aufsteigt, kommen mehr Zuschauer, Werbeverträge werden wertvoller und es gibt mehr Fernsehgelder. Der Wert der meisten Klubs definiert sich nicht nur durch sich selbst, sondern auch dadurch, dass sie in der Bundesliga spielen. Die Liga ist mehr als die Summe ihrer Teile. Wenn alle erkennen, dass man über den eigenen Klub hinaus die gesamte Liga pflegen und schützen muss, wird die Bundesliga das bleiben, was sie ist.
Für die Bundesligavereine muss der neue Fernsehvertrag gewesen sein wie Ostern und Weihnachten an einem Tag.
Man darf in der Tat nicht vergessen, dass wir es ganz überwiegend mit kleinen und mittelständischen Betrieben zu tun haben. An manchen Orten hat der Finanzchef vor zehn Jahren selbst noch Tickets verkauft und nun werden Millionen aus den Fernsehverträgen überwiesen. Da gibt es hin und wieder schon noch Wachstumsschmerzen. Das ist aber normal. Strukturen brauchen immer Zeit, um mitzuwachsen.
Uli Hoeneß begründet seine Prognose vom unaufhaltsamen Aufstieg der Bundesliga insbesondere mit der Einführung des „Financial Fairplay“, das strenge Bilanzierungsregeln für die europäischen Topklubs vorsieht.
Ich halte die Einführung für sinnvoll. UEFA-Präsident Michel Platini hat sich mit diesem Projekt weit aus dem Fenster gelehnt. Er muss nun auch für die konsequente Umsetzung sorgen, sonst macht er sich unglaubwürdig. Aber es wird spannend, wenn in Zukunft gegen die Regeln verstoßen wird. Lässt man Klubs mit sehr spendablen Eignern wie Chelsea und Paris St. Germain dann tatsächlich nicht mehr mitspielen? Und wie geht man mit Tricks um, die ganz sicher versucht werden?
Eine Gefährdung für die Bundesliga könnte von innen kommen. Sind Sie froh, dass das Red-Bull-Farmteam RB Leipzig derzeit noch in der Regionalliga, also in der Zuständigkeit des DFB, kickt?
Nein, wir beschäftigen uns natürlich auch schon mit dem Thema, sprechen mit dem DFB und werden, wenn es soweit ist, genau prüfen, ob die Ligastatuten eingehalten werden. Prinzipiell muss man RB Leipzig aber zugute halten, dass sie unten im Ligasystem angefangen und es sich im Falle eines Aufstiegs sportlich erarbeitet haben.
Wenn wir fußballromantische Aspekte mal beiseite lassen, wären mehrere Klubs wie RB Leipzig nicht auch unter wirtschaftlichen Aspekten gefährlich für die Liga?
Red Bull investiert das Geld sicher nicht, um in zwanzig Jahren gegen 17 andere Red-Bull-Teams zu spielen. Also wird auch hier auf die Fußballromantik großer Klubs und Wettbewerbe gesetzt. Für uns ist klar, dass die Bundesliga zu einem großen Teil von Klubs mit lebendigem Vereinsumfeld und großem Fananhang lebt. Allerdings zeigen die letzten Jahre, dass Tradition allein nicht ausreicht. In der Bundesliga spielen derzeit mehrere Teams, die vielleicht nicht in der ganzen Republik Fans haben, aber sportlich gut arbeiten. Ich kenne niemanden, der Fürth nicht den Aufstieg gegönnt hätte.
Im Sommer wird der fünfzigste Meister der Bundesliga gekürt. Glauben Sie, dass die Gewaltdiskussion dann beendet sein wird?
Letztlich wird es darauf ankommen, dass wir uns aufs Wesentliche konzentrieren und ehrlich miteinander reden. Natürlich haben DFB und DFL auch nicht immer die beste Figur abgegeben. Wenn wir aber einmal die Streitpunkte Pyrotechnik und Kollektivstrafen beiseite lassen, worüber reden wir denn dann? Über eine Bundesliga, die jedes Wochenende tollen Sport bietet. Deren Spieltage nicht so zerfasert sind wie etwa in Spanien. Und in der Zuschauer aus allen gesellschaftlichen Schichten entscheiden können, ob sie stehen oder sitzen wollen. Vor diesem Hintergrund geht es uns eigentlich gut. Leider sind wir gerade dabei, dies zu vergessen.