Im August 2012 setzte sich Carlo Farsang in sein Auto und fuhr ans Polarmeer, um ein Spiel der dritten russischen Liga zu sehen. Verrückt, sagen die einen. Ein Traum, sagt der Groundhopper.
Carlo Farsang hat keine Zeit. Doch wen interessiert das hier? Hier ist niemand. Hier ist nur dieser verdammte Grenzübergang nach Russland, 580 Kilometer nördlich vom Polarkreis, weiter nach Norden geht es zum finnischen Wildreservat Tsarmitunturin Eräma. Es ist fünf Uhr morgens. Kein Mensch weit und breit, am Straßenrand ein paar verrostete Autowracks, komplett ausgenommen, sonst Wald, Zäune, Schilder. „Seis!“ steht auf einem. „Stop!“ Am großen Eisentor leuchtet die Ampel rot. Dazu der Hinweis: Open 7 – 21 h.
Der Groundhopper will nach Russland, Murmansk. Dort spielt heute der örtliche Klub Sever gegen Piter Sankt Petersburg. Dritte russische Liga. Harter Stoff. Carlo ist in Furtwangen im Schwarzwald gestartet, 3604 Kilometer bis zum Ziel, der Plan klang ziemlich großartig, doch jetzt läuft ihm die Zeit davon. „Wer hat sich das nur ausgedacht?“, schimpft Carlo und meint damit die Anstoßzeit: Das Spiel in Murmansk soll um 12 Uhr beginnen, an einem Montag.
Carlo Farsang hasst es, zu warten. Deshalb ist er nur ganz selten mit anderen Groundhoppern auf Tour. „Ballast“, nennt er sie. „Die müssen ständig auf Klo, dann rauchen, dann ihre Schnürsenkel zumachen“, sagt er. Manchen hat er Spitznamen gegeben. Einer, der ihn mal nach Südamerika begleitete, heißt „Hungermüdetaxi“. Seit einiger Zeit darf in seinem roten Kleinbus nur noch seine Frau Sophia mitfahren. Den Bus hat er umgebaut, die Sitzreihen rausgenommen und stattdessen ein paar Styroporscheiben hineingelegt, darüber einen Lattenrost und eine Matratze. So fährt er davon. Über endlose skandinavische Schnellstraßen, vorbei an Orten wie Kuivaniemi, Karsämäki oder Sodankylä. Den Fuß ständig auf dem Gaspedal, tagsüber, nachts, immer weiter. Im lappischen Wald wäre er beinahe in einen ausgewachsenen Elch gedonnert.
Man erklärt uns, wie man Feinde erschießt
Um Viertel nach sieben schreckt Carlo hoch. Er war eingeschlafen, und nun steht das Eisentor sperrangelweit offen. Sofort lenkt er seinen Bus hindurch. Auf der finnischen Seite läuft alles glatt: Papiere, Ausweis, weiterfahren. Auf der russischen Seite geht alles schief. Carlo verzweifelt an einem Formular, in dem er Angaben zum Fahrzeug machen muss. Er trägt versehentlich das Baujahr in das Hubraum-Feld ein. Dann streicht er das Geschriebene durch, das ist aber nicht erlaubt. Alles noch einmal von vorne. Eine Stunde vergeht.
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Draußen steht ein Grenzbeamter, Typ Captain Harris, Police Academy. Er zieht die Schultern hoch. Sever Murmansk? Piter Sankt Petersburg? Nie gehört. Er raucht jetzt und sagt, dass er Fußball nicht mag. Er mag Snipergewehre. Solche, die man mit einem Spiegel versehen kann, um damit um Ecken zu spähen. Er erzählt von einem Kameraden, der im Tschetschenienkrieg mit dieser Sniper-Spiegel-Technik einen Feind erschoss. Zur Demonstration hebt Captain Harris die rechte Hand, stellt mit der linken einen imaginären Spiegel ein und drückt den Zeigefinger herunter. Er macht: „tschik, tschik“. Dann sagt er: „We have best Snipers!“, und wünscht eine gute Reise. Carlo ruft: „Tempo! Tempo!“
Carlo Farsang war jahrelang Deutschlands bekanntester Groundhopper. Seit er 1989 seinen HSV erstmals auf eine Europapokalfahrt nach Göteborg begleitete, war er unterwegs. Über ihn wurden Filme gedreht und Bücher geschrieben. Er hat 119 Länder- und weit über 1800 Groundpunkte gesammelt. Das heißt, er hat Fußballspiele in 119 verschiedenen Ländern und in über 1800 Stadien gesehen. Einmal schaffte er elf Partien in fünf Tagen in sieben Ländern. Ein anderes Mal fuhr er mit dem Fahrrad von Niger aus über Burkina Faso nach Mali und schaute sich Spiele von Sahel SC oder Old Niamaey an. 6000 Kilometer in drei Monaten, ein Fahrrad ohne Bremsen, dafür mit einem Wassertank am Lenker, er fuhr dorthin, wo die Einheimischen noch nie einen Weißen gesehen hatten, jedenfalls noch nie einen Weißen auf einem Fahrrad. Er wollte sogar noch weiter, nach Sierra Leone, doch da war gerade der Bürgerkrieg ausgebrochen, also drehte er sein Fahrrad um und fuhr wieder zurück.
Der Abschied vom Groundhopping
Vor zehn Jahren, im Oktober 2002, hatte Carlo seine Groundhopper-Karriere eigentlich für beendet erklärt. Er war von einer Asientour heimgekehrt, inzwischen 31 Jahre, und wollte bodenständiger werden. Früher hatte er mal eine Bäckerausbildung angefangen und in einem Lager gearbeitet, später in einem Metallbetrieb oder bei einer Spedition, von Dauer war nichts.
Drei Tage nach seiner Rückkehr aus Asien, am 2. November 2002, kaufte er sich eine Werkzeugkiste und eine Bohrmaschine und pries sich in Furtwangen als Hausmeister-Full-Service-Firma an. Die Leute nahmen seine Hilfe an, und so hat er es zu Wohlstand gebracht. Er repariert Lichtanlagen, säubert Dachrinnen, putzt Fassaden. Er ist zur Stelle, wenn im Dorf jemand eine Schneefräse benötigt oder ein Wasserspiel für die Gartenanlage errichten möchte. Carlo und Sophia wohnen inzwischen in einem Haus am Hang, vor dem er schon als Kind häufig stand. Es gehörte damals einem berühmten Narkosearzt, es sah aus wie das Haus aus einem James-Bond-Film. Es zog sich über einen Felsvorsprung, hatte eine Wendeltreppe und der Eingang war nur durch einen kleinen Seitentunnel zu erreichen. Hier wollte er bleiben.
Doch irgendwann rief ihn die Ferne wieder. Zwei andere Groundhopper haben ihn zwischenzeitlich im Länderpunkte-Ranking überholt, aber das ist Carlo egal. „Ich reise nicht für Rekorde, ich reise für mich“, sagt er. Momentan schafft er nur noch 50 Spiele pro Jahr. Die Touren sind allerdings ausgefallen wie eh und je. Für die Reise nach Murmansk ist er am Freitagmorgen gestartet. Auf dem Weg wollte er noch ein Spiel in Schweden und eines in Finnland mitnehmen. Er warf alles in seinen Bus, eine Tüte Studentenfutter, ein Sixpack Wasser, ein grünes Kissen mit Froschmotiv und dem Slogan „Küss mich!“
„Murmansk, wir kommen!“
Carlo ist Jahrgang 1971, er trägt eine blaue Jeans-Short, ein T‑Shirt in Kaki. Mit seinen langen Haaren, den Falten um die hellblauen Augen sieht er ein bisschen aus wie eine Figur aus einem Karl-May-Roman. Manchmal spricht er sogar so. Er liebt Lebensweisheiten, wie sie auf Kalendern stehen: „Eine Hand wäscht die andere, zwei waschen ein Gesicht.“ Oder: „Die meisten Leute vergessen, dass ihr letztes Hemd keine Tasche hat.“ Wenn sich Dinge zum Guten wenden wie im schwedischen Kapellskär, wo er auf einer eigentlich ausgebuchten Fähre noch einen Platz bekommt, dann springt er auf und ab und ruft: „Murmansk, wir kommen!“ Und seine Frau springt auch auf und ab, lacht und ruft: „Mein lieber Mann! Mein lieber Mann!“
Carlo erzählt gerne die Geschichte aus seiner Schulzeit, als ein Lehrer fragte, in welches Land die Schüler gerne mal reisen würden. Die Mädchen wollten in die USA, ein paar abenteuerlustige Jungs nach Kanada. Carlo antwortete: „UdSSR“. Das Land reizte ihn wegen der Größe, des Eisernen Vorhangs und geheimnisvoller Ortsangaben wie Wladiwostok oder Ural.
Doch er kam als Schüler nicht mal in die Nähe der UdSSR, denn seine Familie fuhr nie weg. Und wenn man es genau nimmt, hatte er damals nicht mal eine Familie. Seine Mutter hat er nur einmal in seinem Leben gesehen, kürzlich erfuhr er, dass sie vor sieben Jahren gestorben ist. Sie war Slowenin und kam in jungen Jahren mit einem Rucksack voller Hoffnungen nach Deutschland. Bald drohte sie ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlieren. Also ließ sie sich schwängern. Fünfmal. Von fünf verschiedenen Männern. Einen Sohn nannte sie Carlo.
Doch nicht sie, sondern der Mann zog den Jungen groß. Und der Mann trank. Carlo hatte viele Jahre keinen Kontakt zu ihm. Erst 2004 meldete sich ein Arzt bei ihm, denn sein Vater brauchte Pflege und die Verwandten wollten ihn nicht nehmen. Also holte Carlo ihn zu sich. „Als Kind konnte ich nicht begreifen, dass Alkoholismus eine Krankheit ist“, sagt er. „Doch in diesen letzten Jahren kamen wir uns näher, als wir es jemals zuvor waren.“ Als sein Vater eines Tages eine Straße überqueren wollte, überfuhr ihn ein Auto. Das ist jetzt vier Jahre her.
Seitdem ist Sophia die Familie von Carlo. Sie ist eigentlich Deutschlehrerin, doch nun arbeitet sie in seiner Firma. Sie stammt aus einem 600-Einwohner-Dorf in Weißrussland. Die beiden lernten sich in der Ukraine kennen. „Danach habe ich seinen Namen gegoogelt und da stand: ›König der Groundhopper‹. Dann habe ich den Begriff Groundhopper gegoogelt, und ich dachte, er wird mich nie wiedersehen wollen“, sagt sie. So einer wie Carlo, der mal in Algerien verhaftet wurde, der in Argentinien lebte, der mehrere tausend Kilometer mit der Bahn durch Russland fuhr, um zur WM nach Südkorea zu kommen, der 1989 als einziger Fan zum HSV-Trainingslager nach Porto Alegre gereist war – was sollte sie so einem schon erzählen? Doch Carlo schrieb ihr, und ihr gefiel, dass er schöne und ganze Sätze schrieb. Also antwortete sie. Dann rief er sie an und sie verließ ihr Dorf. Im Februar dieses Jahres haben sie geheiratet. „Die Hochzeit führte zu einer Massenkarambolage“, sagt der Bräutigam. „Sie trug das kürzeste Kleid, das ich je gesehen habe.“
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In Södertälje, 30 Kilometer südlich von Stockholm, findet am Samstagnachmittag das erste Spiel auf der Tour statt. Eine Partie zwischen dem FC Syrianska und Gefle IF, Abstiegskampf in Schwedens erster Liga. Carlo kommt bereits am frühen Morgen an. Zunächst streift er durch die schwedische Hauptstadt, es ist teuer hier, in den Restaurants kostet ein Cheeseburger 25 Euro. Deshalb fährt er schon jetzt nach Södertälje, er geht mit Sophia in ein Einkaufszentrum, das sich an einem Verkehrskreisel befindet, gegenüber Ikea, daneben ein Autohaus. Hinter dem Parkplatz hüpfen Kinder auf Trampolinen. Vorort-Tristesse. Carlo isst ein Stück Fleisch. Von der Rolltreppe aus beobachtet er eine Wasserfontäne, die in bunten Farben beleuchtet wird. Mit fachmännischem Blick sagt er: „Gut gemacht. Die Düsen bewegen sich auch noch!“ Dann legt er sich in den roten Autobus und schläft.
In die Södertälje Fotbollsarena verirren sich an diesem Nachmittag 1476 Zuschauer. Carlo sitzt ein wenig abseits vom Pulk und macht Fotos. In der zweiten Minute fliegt ein Ball direkt in seine Arme.
1992, als Groundhopping in Deutschland populär wurde, gründete sich die Vereinigung der Groundhopper Deutschlands. Dort werden alle Hopper geführt, die mindestens 30 Länderpunkte gesammelt haben. Daneben gibt es auch solche, die Untersysteme haben. Zum Beispiel die Benelux-Hopper, die sämtliche Ligen in Holland, Belgien und Luxemburg abgrasen. Oder jene Hopper, die nur Stadien zählen, in denen sie den Ball direkt ins Spielfeld zurückgeköpft haben. „Kopfballhopper“ nennt man sie. Ein anderer, Stephan Schlei aus Düsseldorf, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Spiele ausschließlich per Anhalter zu erreichen. Seit 30 Jahren macht er das. Er schläft in Hauseingängen, das Geld erbettelt er sich auf der Straße. Er steht im Guinness Buch für die meisten getrampten Kilometer. „Wenn man solche Geschichten hört, denkt man sich: Zum Glück bin ich normal“, sagt Carlo.
Kein Handy, kein Auto, kein Fernseher, keine Stereoanlage
Früher lebte auch er von der Hand in den Mund. Als er Südamerika bereiste und schließlich nach Buenos Aires zog, um die dortigen Ligen zu komplettieren, trat er als Straßenkünstler auf. Er hatte sich zuvor eine Handpuppe gekauft, die er Casanova taufte. Vor seinem Trip studierte er vor dem Spiegel sein Programm ein. Dann machte er sich auf den Weg. Er ging mit der Puppe in Schnellrestaurants oder stand in Einkaufsstraßen von Buenos Aires. Manchmal landeten über 100 Dollar im Topf.
Viele Jahre besaß Carlo kein Handy, kein Auto, keinen Fernseher, keine Stereoanlage. Er hatte nur seine vier Wände, ein paar Klamotten und Andenken an die Reisen. Die Heizkörper wurden nur bei extremen Minusgraden angeworfen. In der Groundhopper-Szene galt er deswegen als Lebenskünstler. Als ein Chef ihm einmal keinen Urlaub genehmigte, kündigte er seinen Job. Der Chef erzählte was von Arbeitsmarkt und sicherem Verdienst. Doch Carlo schüttelte den Kopf. Unter solchen Bedingungen wollte er nicht arbeiten. „Das war ein Knebelvertrag!“, sagt er. War das Spiel denn so wichtig? „Es war das erste Spiel in Sarajevo nach dem Jugoslawienkrieg.“
Die Partie in Södertälje endet 1:0 für Syrianska. Carlo rennt mit dem Abpfiff zum Parkplatz. Dort steht der rote Bus, dort schläft seine Frau auf der Matratze. Das nächste Spiel, FF Jaro Pietarsaari gegen Jyväskylän Jalkapalloklubi, findet morgen um 18.30 Uhr in Jakobstad statt. FF Jaro ist der nördlichste Erstligaverein in Finnland. Der Fuß klebt wieder auf dem Gaspedal. Heute Nacht kann er erstmals länger als vier Stunden schlafen, denn die Fähre setzt ihn rüber zum finnischen Naantali.
Er ist bereits fünf Stunden vor Spielbeginn in dem 15 000-Einwohner-Ort Jakobstad. Es ist Sonntag, die Geschäfte sind geschlossen. Ein paar Jugendliche hängen vor einem Café ab, sie tragen die neuesten Frisuren und Shirts mit Strass-Applikationen. Die Mädchen trinken Latte macchiato oder Frappé. Als ein junger Mann mit einem Sport-Cabriolet vorfährt und seinen Ellbogen aus dem Fenster lehnt, kichern sie. Er sagt „Hei“ und braust davon. Carlo fährt seinen roten Bus minutenlang durch das kleine Örtchen. Es ist ein bisschen so, als reite ein Cowboy in eine Stadt ein.
Jakobstad: Alte Holzbänke, zwei Stehtraversen
Schließlich kehrt er um, zurück zum Stadion: Er hat eine Idee, wenn er sein Auto jetzt schon auf das Stadiongelände stellt, wird er sich kein Ticket kaufen müssen. Er hat zwar heute keine Geldsorgen mehr, aber er achtet weiter auf jeden Pfennig. Auch bei Fußballspielen. Mal springt er über den Zaun und verschwindet in der Menge, mal gibt er sich als Journalist aus, der seinen Presseausweis vergessen hat. Manchmal zeigt er auch eine alte Monatskarte vor, auf die er mit Filzstift groß „Presse“ geschrieben hat. Dazu trägt er eine Profikamera über die Schulter. Der Plan geht auch dieses Mal auf. Carlo zahlt keinen Eintritt.
Das Stadion ist ein Idyll, es gibt eine Tribüne mit alten Holzbänken, auf der anderen Seite zwei Stehtraversen, hinter dem Tor ein kleines Häuschen mit 50-Quadratmeter-Wiese und Gartenzaun. Dort befindet sich ein Bereich, in dem man Dosenbier für fünf Euro kaufen kann. Das Stadion ist nahezu ausverkauft, 2143 Zuschauer sind gekommen, und Carlo Farsang atmet erstmals richtig durch. Murmansk ist nur noch eine Etappe entfernt und nun ist er ganz bei sich. Die Sonne scheint auf den Rasen, ein paar Senioren schreien auf, als einer der ihren gefoult wird, und ein lokaler Reporter beugt sich vor: „Germany?! Ha! We have a guy from Hamburg here.“ Carlo fragt, wo dieser denn sei. Der Reporter zeigt auf einen Spieler, der auf der Ersatzbank sitzt. Er heißt Tillmann Grove und hat früher mal in der zweiten Mannschaft des HSV gespielt. In der 70. Minute wird er eingewechselt. Mit seiner ersten Ballberührung schießt er ein Tor, doch der Schiedsrichter entscheidet auf Abseits. Das Spiel endet 0:3.
Dann geht es wieder auf die Straße. Die Zeit rennt. Bis nach Murmansk sind es noch 1200 Kilometer. Dafür hat Carlo etwa 14 Stunden eingeplant. Er würde so eine Stunde vor Anpfiff in Murmansk ankommen. Im Norden Finnlands, kurz vor Lappland, tankt er noch einmal voll. Nun kommt nichts mehr, keine Ortschaften, keine Tankstellen, keine Menschen. Montagmorgen um fünf Uhr steht sein roter Bus schließlich an der Grenzstation. Doch erst um 9 Uhr darf er die letzte Schranke passieren. „Tempo!“, ruft Carlo noch einmal. „Tempo! Tempo!“ Sophia zeigt die Bilder ihrer Hochzeit. Das Kleid ist wirklich sehr kurz.
Sie haben ein paar Hobbys gemeinsam. Gartenarbeit zum Beispiel. Oder Musicals. Carlo liebt Musicals. 23 Mal hat er „Tanz der Vampire“ gesehen. Normalerweise läuft auch im roten Bus eine Musical-CD, doch die Boxen geben seit geraumer Zeit seltsame Töne von sich und dann müsste er anhalten und schrauben und friemeln.
Nach Murmansk sind es jetzt noch 280 Kilometer, es bleiben drei Stunden bis zum Anstoß. Das Problem: Die Straße ist voller Schlaglöcher. Carlo ignoriert diese zwar weitgehend, dennoch schafft er es nicht rechtzeitig. Erst um 12.34 Uhr fährt der Bus in Murmansk ein. Die Stadt war bis 1991 militärisches Sperrgebiet. Noch heute ist sie Hauptstützpunkt der russischen Nordmeerflotte. Murmansk empfängt seine Besucher in Grau. Verfallene Plattenbauten, bröckelnder Putz, eine Suppe aus Abgasen und Wolken hängt über der Stadt. So stellte sich der Westen früher den Osten vor. Schien hier jemals die Sonne?
„Wie der Marlboro-Mann – nur ohne Pferd.“
Carlo Farsang kennt keinen Groundhopper, der schon mal hier war. Und Carlo Farsang kennt so gut wie jeden Groundhopper. Für ihn ist es die längste Strecke, die er jemals an einem Stück mit dem Auto zurückgelegt hat. Es ist mittlerweile 12.48 Uhr. Carlo bleibt entspannt, obwohl er für das Spiel in Murmansk 3604 Kilometer zurückgelegt hat und nun nur noch die zweite Halbzeit sehen wird. Er kurvt durch die Stadt, planlos, so scheint es jedenfalls, denn er reist ohne Navigationssystem. Er hat keine Adressen, keinen Stadtführer, nur einen gewöhnlichen Atlas, doch der ist in den Orten natürlich nutzlos. Er biegt mal rechts und dann wieder links ab. „In Russland liegt jedes Stadion im Zentrum“, sagt er. Also fährt er dorthin und hält Ausschau nach den Flutlichtmasten. Und tatsächlich strecken sich diese mit einem Mal in den Himmel: das Stadion von Sever Murmansk. Das Feld ist leer, die Tribünen auch. Am Eingang hängt ein Schild, Sophia übersetzt: Das Spiel ist auf 18.30 Uhr verlegt worden. Carlo lächelt.
Im Stadion steckt er sich eine an. Eigentlich raucht er nicht. Doch nun ist es geschafft. Es wäre nicht so tragisch gewesen, wenn er nur die zweite Halbzeit gesehen hätte. Er kramt eine weitere Lebensweisheit hervor: „Der Weg ist das Ziel.“ Zu Beginn der Reise sagte er, dass der Weg auch eine Flucht sei. Dabei fühlt er sich doch wohl in Furtwangen. Auch wenn er es seltsam findet, dass einige seiner Nachbarn in ihrem Leben noch nie weiter als nach Karlsruhe gekommen sind. Nun sagt er: „Flucht ist falsch.“ Was also dann?
Geht es darum, die weißen Stellen auf der Landkarte auszufüllen? Vielleicht. Ist es seine Rastlosigkeit? Ja, auch. Die Unabhängigkeit? Die Freiheit? Er zieht an der Zigarette. Er inhaliert den Rauch nicht, sondern sammelt ihn in den Backen, dann öffnet er den Mund und Quellwölkchen wehen hinaus. Er nickt. Er sagt: „Manchmal fühle ich mich wirklich wie der Marlboro-Mann – nur ohne Pferd.“
Als das Spiel um 18.30 Uhr angepfiffen wird, peitscht der Regen von allen Seiten gegen den Bus. Carlo kennt nichts, er geht ins Stadion. Dieses Mal klappt der Presse-Trick nicht, er muss umgerechnet 2,50 Euro zahlen. Auch Sophia, die sonst stets im Bus wartet, kommt mit. Das Stadion hat neue Sitzplätze, sie sind in den Farben der russischen Nationalflagge gehalten und auf die alten Holzbänke geschraubt worden. Zwischen ihnen wuchert Lavendel. Carlo macht Bilder von einem Strauch. Er wird dabei von ein paar Sever-Ultras beobachtet, vielleicht 20 oder 30. Wer ist dieser Mann mit den langen Haaren und dem Fotoapparat? Sie versuchen, ein Gespräch zu beginnen. Doch sie können kein Englisch. Und Carlo spricht kein Russisch. Dann fällt der 1:0‑Siegtreffer, und der Fremde jubelt. Er darf bleiben, doch er muss los.
Carlo Farsang schlägt den Atlas auf, dann zeigt er auf eine Stadt mit dem Namen Tromsø, sie liegt in Norwegen und beheimatet den nördlichsten Erstligaklub der Welt, Tromsø IL, der gegen Spitzenreiter Stromsgodset IF spielt. Er will hin. Über das Nordkap. 1300 Kilometer, Schlaglöcher, Elche, Frost. Der Asphalt Cowboy fährt mit dem Finger über die Route auf dem Atlas. Dann steckt er sich noch eine an. Er hat Zeit. Das Spiel ist erst in sechs Tagen.