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Die Ukraine ist flä­chen­mäßig eines der größten Länder Europas. Von Osten nach Westen sind es etwa 1600 Kilo­meter, von Donezk nach Kiew 730, Mit einem han­dels­üb­li­chen Ukraine-Express benö­tigt man für diese Strecke 13 Stunden. Vor der EM herrschte hier des­wegen ein biss­chen Panik. Wie werden die aus­län­di­schen Fans reisen? Werden sie recht­zeitig zu den Spielen kommen?

Kur­zer­hand impor­tierte man ein paar Züge aus Süd­korea. Schnell­züge, die mit dem ukrai­ni­schen Schie­nen­system kom­pa­tibel sind und die bei­nahe so schnell durchs Land fahren wie deut­sche ICE. In Spitze schaffen sie 162 km/​h. Das Pro­blem: Die Züge fahren nur zweimal am Tag. Zwi­schen 6 und 7 Uhr sowie zwi­schen 16 oder 17 Uhr. Der erste Zug ist meis­tens sehr schnell aus­ge­bucht. Ich bekam für die Strecke Donezk-Kiew jeden­falls nur ein Ticket für 16:50 Uhr. Ankunft um 23:50 Uhr, also nach Abpfiff des Halb­fi­nales Deutsch­land gegen Ita­lien. Doch ich war mir sicher, dass es irgendwo in diesen Super-EM-Zügen eine Mög­lich­keit geben würde, dieses Spiel zu sehen.

Power and Beauty in der PR-Schleife

In den Abteilen befinden sich sechs Bild­schirme, über die für gewöhn­lich ein PR-Clip flim­mert. Man sieht darin ukrai­ni­sche Folk­lore, ukrai­ni­sche Land­schaften, ukrai­ni­sche Städte, ukrai­ni­sche Men­schen. Mal tanzen sie, mal töp­fern sie, mal schmeißen sie Laub in die Luft. Fast immer stehen sie dabei vor alten Gebäuden oder Sta­tuen aus der Stalin-Ära. Geschnitten ist der Clip wie ein MTV-Musik­video. Er dauert fünf Minuten, dann beginnt er von vorne. Man sieht ihn auf der Strecke Donezk-Kiew also 84 Mal.

In meinem Abteil saßen am Don­ners­tag­abend zahl­reiche Spa­nien-Fans, die eben­falls die leise Hoff­nung hatten, dass hier um 21:45 Uhr Orts­zeit das Halb­fi­nale gezeigt würde. Um 21:43 Uhr blickten wir aber immer noch in die PR-Schleife, gerade waren Bilder aus Donezk zu sehen. Eine sti­li­sierte Rose und ein sti­li­siertes Koh­le­stück. Dar­unter der Slogan: Power and Beauty“.

Ich hatte zwei Tage in Donezk auf der Couch eines befreun­deten Kol­legen ver­bracht. Er war knapp ein­ein­halb Wochen in Donzek. Sein Kol­lege über drei Wochen. Als ich ihnen von der Schön­heit Lwiws und der pul­sie­renden Metro­pole Kiew erzählen wollte, durfte ich nicht wei­ter­reden. Sie blickten auf die Artema-Straße in Donezk. Dann sagten sie, dass es hun­dert Meter nach rechts ein Café gebe. Und irgendwo solle eine Statue von Sergei Bubka stehen. Keine Power, kein Beauty, sagten sie. Nur: Stadt­hass.

21:46 Uhr: Das Pro­gramm gab nicht auf. Es wurde unauf­hör­lich getöp­fert, getanzt, gelaubt. Immer wieder. Immer von vorne. Immerhin hat der Clip zwi­schen der zweiten und dritten Minute eine unfassbar auf­re­gende Wen­dung. Da lernt eine rot­haa­rige Frau (Typ Kate Winslet) einen dun­kel­haa­rigen Mann (Typ Richard Gere) kennen. Sie werfen sich ver­träumte Blicke zu. Irgend­wann hofft man sehr stark, dass sie sich küssen. Oder prü­geln. Oder einen Joint rau­chen. Irgendwas machen. Doch sie schauen sich nur ver­träumt an. Ich wollte die Bild­schirme aus dem Abteil werfen, doch sie sind sehr fest mon­tiert. Ich wollte woan­ders hin­gu­cken, doch die Bild­schirme geraten immer wieder ins Blick­feld. Ich ver­fluchte mich also, da ich nichts zu lesen mit­ge­nommen hatte. Kein Buch, keine Bro­schüre, nicht mal ein Lus­tiges Taschen­buch“ auf ukrai­nisch.

21:49 Uhr: Die Spa­nier wurden unruhig. Einer zog sich seinen Pull­over aus und saß jetzt im Unter­hemd im Gang. Ein anderer ver­suchte, eine Ver­bin­dung zum Internet her­zu­stellen und SMS zu ver­schi­cken. Sinnlos. Ein dritter fragte nun schon zum achten Mal die Bahn-Ste­war­dess, warum er denn nicht das Pro­gramm umstellen könnte. Er sei schließ­lich TV-Tech­niker. Sie lehnte ab.

1:0, lange Gesichter

22:10 Uhr: Jemand schrie den Namen Balotelli. Ein Japaner hatte irgendwie eine SMS erhalten. Diese ver­dammte Super-Technik aus Fernost! Es stand 1:0 für Ita­lien. Lange Gesichter überall. Auch bei den Spa­niern. Hier hofften alle auf einen Sieg der Deut­schen.

22:33 Uhr: Halb­zeit. Auf dem Bild­schirm posierte gerade ein Pär­chen vor einer sta­li­nis­ti­schen Kanone in Donezk. Beauty oder Power? Oder beides? Dann schrie ein Mann (Typ japa­ni­scher Ski­lehrer): Balotelli!“ Freute sich der Ski­lehrer noch über das 1:0? Stand es mitt­ler­weile 2:0? Hatte Deutsch­land in der Zwi­schen­zeit getroffen? Er sagte Two!“ Dann fragte ich: Zero?“ Er schüt­telte den Kopf und sagte wieder: Two!“

Ich ver­stand nur die Wörter Balotelli, Klose und Gomez

22:38 Uhr: Ich spielte mit einem Ukrainer ein paar Par­tien Back­gammon. Eine Bahn-Ste­war­dess brachte ein soge­nanntes Lunch-Paket“ vorbei. Das besteht aus einem alten Bröt­chen, Schei­blet­ten­käse, fet­tiger Wurst und ein paar Cher­ry­to­maten. Dazu gibt es ein Trink­päck­chen. Mul­ti­vit­amin. Bzw.: Multi-„Vitamin“. Kostet 40 Griwna, vier Euro. Hun­ger­hass.

Die zweite Halb­zeit ver­ging. Es wurde immer schlimmer. Die Japaner standen mitt­ler­weile zwi­schen den Abteilen und erhielten mit ihren Super­handys im Sekun­den­takt neue Nach­richten. Sie spra­chen kein Eng­lisch. Ich ver­stand nur die Wörter Balotelli, Klose und Gomez. Der Ski­lehrer sagte wei­terhin Two“.

Ich ging auf Toi­lette, dann wieder raus. Ich spielte eine halbe Partie Back­gammon, dann ging ich wieder auf Toi­lette. Ich unter­hielt mich mit den Japa­nern, sie unter­hielten sich nicht mit mir. Ich blickte auf mein Handy. Kein Emp­fang. Zug­hass.

Um 23:55 Uhr erreichten wir Kiew. Ich stürzte aus dem Waggon. Hatte Ita­lien wirk­lich 2:0 gewonnen? Oder stand es 2:2? Quasi Doppel-Two? Ich eilte durch eine Unter­füh­rung, vorbei an den Spa­niern und Japa­nern, an den Taxis und Roll­kof­fern. An der Metro­sta­tion hatte ich erst­mals wieder Internet, und da standen sie, die Zahlen: 2 und 1. Ich kaufte am Kiosk ein Dosen­bier und trank es schnell aus. Ich dachte an Stalin und Richard Gere. Das Spiel war aus.