Die ersten Jahre im Stadion sind die schönsten. Schicken wir also unsere Kinder raus aus den Familienblöcken und rein in die Fankurve – selbst wenn sie zu Hertha wollen.
Selten hat mich ein Bild so bewegt wie das Foto der Fantribüne „Stretford End“ in Old Trafford (siehe oben), der Heimat von Manchester United, vor einem Heimspiel im Jahre 1969. Geschossen hat es der berühmte Fotograf Bob Thomas. Die Aufnahme zeigt die Stehterrassen, prall gefüllt mit Anhängern, fast jeder trägt einen rot-weißen Schal.
Das Bemerkenswerte: Die Fans, die sich gut gelaunt an das mit Holzlatten verstärkte Metallgitter drängen, sind allesamt Kinder und Jugendliche. Die älteren vielleicht vierzehn, die jüngeren eher acht oder neun Jahre alt. Und kein Erziehungsberechtigter weit und breit, was erheblich zu dem Spaß beigetragen haben wird, den die Jungs in der „Schoolboy Section“ von Old Trafford augenscheinlich hatten.
Thomas’ Aufnahme ist auf so viele Arten ein außergewöhnliches Foto.
Seine wichtigste Funktion ist jedoch, dass es eine großartige, inzwischen längst untergegangene Fankultur dokumentiert. Das Bild zeigt einen der stimmungsvollsten Stehplatzblöcke der Insel, eine sangesfreudige und begeisterungsfähige Anhängerschar, es zeigt den Fanblock als wilde Masse, als Abenteuerspielplatz und als Ort der großen Freiheit; da mochten die Bobbys noch so grimmig dreinschauen. Und diese Freiheit galt eben nicht nur für die Halbstarken, die weiter oben auf der Tribüne die Gesänge anstimmten, sondern auch für die Rotzlöffel, die sich wegen der besseren Sicht am Fuß der Stehterrassen drängelten.
Als Fußballfan könnte ich dieses Bild nun mit routinierter Melancholie betrachten. Man weiß ja, dass die wilde englische Fankultur inzwischen durch Schalensitze und horrende Eintrittspreise ziemlich domestiziert worden ist. Und so sehr die Premier League heute auch als Erfolgsmodell gefeiert wird, ist es doch ein Jammer, wie wenig von der einstmals so faszinierenden Atmosphäre übriggeblieben ist.
Oh Schreck: Die Söhne sind Fans von Hertha BSC!
Vor allem aber bewegt mich dieses Foto, das vor 47 Jahren aufgenommen wurde, weil ich Vater von zwei Söhnen bin, die just im gleichen Alter sind wie damals die Schuljungs in Old Trafford, und weil ich in den Augen meiner Kinder den gleichen Wahnsinn und die gleiche überbordende Leidenschaft zu erkennen glaube wie bei den Burschen in Manchester. Und das, obwohl beide Söhne Fans von Hertha BSC geworden sind.
Gott ist mein Zeuge, dass ich alles versucht habe, das zu verhindern. Irgendwie hatte ich immer gehofft, dass ich meine Leidenschaft für Arminia Bielefeld an die nächste Generation weitergeben würde, hatte Trikots gekauft und die beiden vor den Fernseher gezwungen, wenn Arminia spielte.
Aber zwei halbwüchsigen Berliner Jungs zu vermitteln, dass es sich lohnt, sein Herz an einen ostwestfälischen Zweitligisten mit dem fatalen Hang zum grandiosen Scheitern zu vergeben, war von vorneherein aussichtslos. Man schaut ja auch bei Parship nicht zuallererst in der Adipositas-Abteilung vorbei.
Ich war dann auch ganz froh, dass die Jungs entlang der alten Parole „Support your local team“ ihr Herz für Hertha entdeckten. Was ich allerdings nicht erwartet hatte, war, wie sehr die beiden des Wahnsinns fette Beute werden würden. Konrad, der Ältere, ist gerade zwölf Jahre alt geworden und verbringt seine Nachmittage vorwiegend damit, auf unserem Balkon zu stehen, seine Hertha-Fahne zu schwenken und so laut Choräle zu grölen, dass vorbeifahrende Radfahrer gerne mal komplett aus der Spur geraten.
Wenn es zu kalt ist, um im Freien zu krakeelen, sitzt er in seinem Zimmer und zeichnet auf sechs aneinander geklebten Din-A4-Blättern das Hertha-Stadion nach, wohlgemerkt das alte, längst abgerissene Areal am Gesundbrunnen, von dem er sich Bilder im Internet besorgt hat. Für den Stab seiner Hertha-Fahne verbrachten wir mehrere Stunden im Baumarkt, wo er sich von einer sichtlich genervten Mitarbeiterin der Gartenabteilung die Vorzüge von langen Metallstäben mit Plastikummantelung erklären ließ, bis sie indigniert nachfragte: „Was willst du denn damit in Gottes Namen schwenken?“
Das enttäuschte Aufbrausen des Berliner Stadionpublikums
Und an Konrads Bett liegt ein völlig zerlesenes Buch mit längst auswendig gelernten Hertha-Statistiken. Man könnte ihn nachts um drei wecken und er würde im Halbschlaf mechanisch die Bundesliga-Einsätze von Uwe Kliemann und Ete Beer herunterbeten. Apropos nachts: Neulich wachte ich aus dem Tiefschlaf auf und hörte ein ersticktes Keuchen aus dem Bad. Ich sah nach, es war kein gestürzter Senior, sondern Leo, der jüngere Sohn. Er saß auf dem Klo und imitierte durch kehlige Laute das enttäuschte Aufbrausen des Berliner Stadionpublikums nach einer vergebenen Torchance.
Wenn beide zusammen sind, steigern sie sich gerne in eine für Außenstehende schwer nachvollziehbare Hertha-Hysterie hinein und tippen die Rückrunde so durch, dass am Ende immer ein Champions-League-Platz dabei herauskommt.
Wenn ich dann einfühlsam und durch die Blume darauf hinweise, dass es totaler Monsterquatsch ist, einen 4:1‑Heimsieg gegen die Bayern anzunehmen, reden beide stundenlang nicht mit mir. Und als sie zu Weihnachten eine Playstation geschenkt bekamen, war die erste Partie, die sie spielten, nicht Barcelona gegen Bayern oder wenigstens Arminia gegen Bochum, sondern Hertha gegen die TSG Hoffenheim. Ich wollte ihnen das Ding eigentlich gleich wieder wegnehmen.
So nervig es manchmal ist, wenn sich wieder der Nachbar wegen Konrads Balkon-Gegröle beschwert, und so sehr ich mich bisweilen in die heimische Wohnstube wünsche, wenn ich mit den Jungs im Oberrang der zugigen Ostkurve hinter einer Pommestonne mit Preetz-Trikot hocke, so nahe fühle ich mich den beiden stets in ihrer ganzen Leidenschaft für den Fußball. Und ich gestehe, dass ich manchmal auch ein bisschen neidisch bin auf ihre ungetrübte, unverstellte Begeisterung.
Natürlich schaue ich als 43-Jähriger inzwischen einigermaßen abgeklärt auf den Fußball im Allgemeinen und meinen Lieblingsverein im Speziellen. Zwar ist Arminia immer noch mühelos in der Lage, mir mit einer Niederlage das komplette Wochenende zu versauen. Und ich gestehe, dass ich während durchaus wichtiger Besprechungen gerne mal aufs Handy linse, um dort herrlich egale Stimmungsberichte aus dem Trainingslager in Belek oder sonst wo zu studieren.
Aber ich weiß eben auch, dass Elton John nicht so ganz unrecht gehabt hat, als er mit Klavierbegleitung vom „Circle of Life“ sang. Auch der Fußball ist ein ewiger Kreislauf aus Triumphen und Tränen, Abstiegen, hehren Plänen und geplatzten Träumen. Alles war schon mal da und kehrt wieder. Oder um es banaler zu formulieren: Wer aufsteigt, steigt auch wieder ab.
Selbstgenähte Arminia-Fahne im Klassenraum
Das weiß ich heute. Aber ich werde mich hüten, derlei altersweise Erkenntnisse an den Nachwuchs weiterzugeben, nicht nur weil man sich dabei schnell anhört wie schlohweiße Zeitzeugen, die mit brüchiger Stimme vom Hungerwinter 1946 erzählen. Nein, die Erfahrung, dass nichts von Dauer ist und dass Fußball jenseits der Allianz Arena in der Regel nach der Neun-Zehntel-Formel funktioniert, also auf eine ansehnliche Partie neun schwer erträgliche Grottenkicks kommen, sollen die Jungs schon selber machen.
Vor allem aber kann ich mich auch noch gut daran erinnern, wie es war, als mich damals der Wahnsinn gepackt hat. Wie ich vor wichtigen Spielen kaum in den Schlaf fand. Wie ich mit einem Schulfreund meine selbstgenähte Arminia-Fahne im Klassenraum aufhing, worauf meine Deutschlehrerin am Elternsprechtag meiner Mutter mitteilte, ich wirke auf sie noch irgendwie „desorientiert“ (was übrigens zu einem geflügelten Wort in unserer Familie wurde). Wie ich unseren Mittelfeldspieler Andreas Golombek am Mannschaftsbus abpasste und ihm das Versprechen abnötigte, auf keinen Falle den Verein zu verlassen, woran er sich allerdings ein paar Wochen später nicht mehr erinnern wollte.
„99 Bielefelder ließen keinen Platz für Schalker“
Und ich habe zwar nicht nachts im Bad herumgeröchelt wie Leo, dafür aber damals aktuelle Arminia-Fangesänge auf Kassette aufgenommen. Die fand ich neulich in der Wohnung meiner Mutter wieder, ich hatte mit erstaunlicher Ausdauer 30 Minuten durchgesungen, darunter krude Adaptionen damaliger Smashhits („Arminen lügen nicht“ und „99 Bielefelder ließen keinen Platz für Schalker“).
Ich habe in der letzten Zeit oft an damals gedacht und begriffen, dass die ersten Jahre im Stadion vielleicht die schönste Zeit sind, die wir als Fußballfan erleben. Es ist eine neue Welt, in die wir staunend treten, eine Welt mit eigenen Gesetzen und Ritualen, mit Fahnen und Gesängen, mit Gebrüll und Gemecker, mit zynischen Greisen und mosernden Familienvätern, mit großem Jubel und tiefer Trauer. Und über die Jahre werden wir, wenn alles gut läuft, selbst Teil dieser Welt.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich mich damals, Anfang der achtziger Jahre auf der Bielefelder Alm, erst nach langem Zögern und Herumgelunger im anliegenden Sektor endlich traute, in den Fanblock zu gehen. Dort, wo Jungs in Bomberjacken grinsend die Ginflaschen zeigten, die sie an desinteressierten Ordnern vorbei hineingeschmuggelt hatten, und bärtige Rockertypen mit schmutzigen Kutten ihre Fahnen schwenkten. Und was für ein Glücksgefühl war das, als ich wider Erwarten nicht sofort wieder rausgeworfen wurde.
Und deshalb erkenne ich mich nun selbst wieder, wenn ich mit den Söhnen den Oberrang betrete und Konrad mit seiner Fahne sofort zur Brüstung läuft und sehnsüchtig hinunter in den Unterrang, in die echte Fankurve blickt. Da will er eigentlich hin und nicht mehr mit dem spröden Vater herumsitzen, der noch nicht mal alle Spieler kennt und während des Spiels nur dann die Faust ballt, wenn das Handy ein Tor in Bielefeld vermeldet.
Ein wenig packt mich dann die Wehmut, wenn ich merke, dass unsere gemeinsame Zeit im Stadion womöglich schon bald zu Ende geht. Ich fand es immer schön, mit den Jungs über das Spiel zu reden und mir von Leo mit Dozentenstimme taktische Feinheiten der Mannschaftsaufstellung erklären zu lassen.
Wahrscheinlich werde ich Konrad und in seinem Schlepptau auch Leo in der nächsten Saison am Aufgang zur Ostkurve verabschieden und mich allein auf die Tribüne hocken. Ich bin mir sicher, die Jungs werden deutlich mehr Spaß haben, wenn sie brüllen und singen können, ohne dass hinter ihnen ständig einer mosert, dass sie sich gefälligst wieder hinsetzen sollen.
Sollte Konrad allerdings auch nur halbwegs seine Angewohnheit beibehalten, die gegnerischen Spieler lautstark und durchaus fantasievoll zu beleidigen, dürfte er alsbald zu jenen gehören, die mit dem Transparent „Ausgesperrte immer bei uns!“ gegrüßt werden. Aber das nur nebenbei.
Zigarettenrauch und Bierduschen
Das Bild aus Manchester hilft mir nun zu begreifen, dass dies genau der richtige Weg ist. Ich will, dass Konrad und Leo annähernd so viel Spaß haben wie die Jungs damals. Den werden sie nicht im rauchfreien Familienblock finden, sondern nur dort, wo gestanden und gesungen wird. Sie sollen ihren eigenen Platz im Stadion finden und ihre eigenen Erfahrungen machen. Fahnen schwenken, den Schal recken und Lieder anstimmen, notfalls Zigarettenrauch vom Kettenraucher nebenan einatmen, Bierduschen abbekommen und beim Torjubel quer durch den Block fliegen.
Das können sie aber nur, wenn nicht der Vater die ganze Zeit neben ihnen hockt und auf sie aufpasst. Denn das verdirbt den ganzen Spaß und versperrt außerdem die Sicht auf das, was den Stadionbesuch von der Couch daheim unterscheidet: eben nicht Zuschauer, sondern Fan zu sein. Teil des Spiels, nicht Teil des Publikums zu sein.
Sicher, so viel Freiheit wie damals in Old Trafford und anderswo gibt es heute nicht mehr. Alles ist zivilisierter, ruhiger, geordneter. Trotzdem ist der Fanblock für junge Fans immer noch ein großes Abenteuer. Sie werden lernen, dass sie früh kommen müssen, um sich einen ordentlichen Platz zu sichern. Sie werden andere Jungs treffen, die genauso froh sind, dass sie endlich in die Kurve dürfen. Sie werden hoffentlich erst mit 15 Jahren erstmals darum betteln, auswärts fahren zu dürfen, und ich weiß jetzt schon, dass ich sie davon nicht abhalten will.
Wird die Tochter Arminia-Fan?
Weil auch das dazugehört, wenn man das Leben als Fan einigermaßen ernst nimmt. Also werde ich ihnen das Geld für die Auswärtsfahrten geben und mich freuen, wenn sie spät abends heiser und erschöpft zurückkommen. Und bei Heimspielen werde ich oben auf der Tribüne hocken und hin und wieder mal schauen, ob ich sie in der Menge entdecke, und glücklich darüber sein, dass der Fußball in ihrem Leben einen ebenso großen Platz einnimmt wie bei mir.
Unterdessen werde ich aber auch versuchen, zumindest meiner sechsjährigen Tochter die richtigen Wertvorstellungen zu vermitteln. Es ist noch alles möglich.
Hin und wieder kommt sie angelaufen und verkündet, sie sei nun auch Arminia-Fan. Ich weiß eigentlich, dass sie mir nur eine Freude machen will. Trotzdem glaube ich ihr. Denn ich hab es ja damals schon auf der Kassette gesungen: Arminen lügen nicht.
Der Text erschien in 11FREUNDE #171. Die Ausgabe ist weiterhin bei uns im Shop erhältlich sowie im iTunes- und im Google-Play-Store.