Pfiffe von den eigenen Fans, kein Selbstvertrauen. Leroy Sané hat schwierige Wochen hinter sich, doch bei der Nationalelf findet er zu seiner Form zurück und liefert sogar Paradebeispiele in Sachen Defensivarbeit ab.
Ein Blick in die Vergangenheit kann manchmal ganz hilfreich sein, um sich zu vergewissern, wie schön doch die Gegenwart ist. Das gilt zum Beispiel für das WM-Qualifikationsspiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen Island an diesem Mittwoch in Reykjavik.
Am 6. September 2003, fast auf den Tag genau vor 18 Jahren, haben die Deutsche zuletzt im Laugardalsvöllur-Stadion gespielt. Für den damaligen Vizeweltmeister reichte es nur zu einem 0:0 gegen den Underdog aus dem Nordatlantik, und die Partie wäre wohl längst der Vergessenheit anheimgefallen, wenn es nicht noch das Nachspiel im Fernsehstudio gegeben hätte, das zu einem Stück deutscher Fußball-Geschichte geworden ist. Rudi Völler, der Teamchef der Nationalelf, hielt damals seine berühmte Wutrede („Käse, Mist, Scheißdreck“), in der er sich über die anhaltende Verächtlichmachung seines Teams erregte.
Die alte Geschichte ist vor dem Abflug der aktuellen Nationalmannschaft nach Reykjavik natürlich noch einmal ausgiebig thematisiert worden. Leon Goretzka, damals acht Jahre alt, wurde zu seinen Erinnerungen vernommen und Bundestrainer Hansi Flick gefragt, ob auch bei ihm ein solcher Ausbruch vorstellbar sei. „Es ist nicht vorstellbar, definitiv nicht“, antwortete er.
Das liegt zum einen an Flicks ausgeglichenem Temperament, zum anderen an der Qualität in seinem Team, die eine ganz andere ist als zu Völlers Zeiten – als die Nationalmannschaft gegen Schottland und Litauen auch mal 1:1 spielte, sich gegen die Färöer zu einem 2:1 quälte, und die Nationalspieler Tobias Rau, Frank Baumann und Michael Hartmann hießen.
Die mediale Begleitung der Nationalmannschaft kennt auch heute noch ungesunde Ausschläge, aber von Tiefpunkt zu Tiefpunkt eilt das Team schon lange nicht mehr. In den vergangenen Tagen konnte man sogar den Eindruck gewinnen, dass Hansi Flick nur ein Problem hat: die missliche Situation von Leroy Sané, zu der er immer wieder befragt wurde. Aber selbst dieses vermeintliche Problem scheint sich in Wohlgefallen aufzulösen.
Zweieinhalb Wochen ist es her, dass Sané im Spiel des FC Bayern München vom eigenen Anhang ausgepfiffen worden ist. „Das Rätsel Sané“ schaffte es anschließend auf den Titel des „Kickers“, seine Situation wurde rauf und runterdiskutiert, mit deutlich alarmistischem Ton, versteht sich. „Lasst den Spieler einfach mal Fußball spielen, sich entwickeln und seine Qualitäten auf den Platz bringen“, forderte daraufhin sein Vereinstrainer Julian Nagelsmann. „Lasst den Leroy Leroy sein.“
Dass der Vorschlag nicht der schlechteste war, haben die vergangenen Tage gezeigt. Seit den Pfiffen der eigenen Fans hat Sané beim 5:0‑Sieg der Bayern gegen Hertha BSC gleich nach seiner Einwechslung ein Tor vorbereitet. Gegen Liechtenstein hat er zum 2:0‑Endstand für die Nationalmannschaft getroffen – beim 6:0‑Erfolg gegen Armenien ist der 24-Jährige vor allem durch seine straffe Haltung aufgefallen.
„Ich habe schon in München Ansätze gesehen, ich habe schon Ansätze in Liechtenstein gesehen“, sagte Bundestrainer Flick. „Gegen Armenien hat er gezeigt, welche Qualität er hat.“ Anders als die Kollegen aus der Offensive war Sané zwar nicht unmittelbar an einem der sechs Tore beteiligt, doch anders als zuletzt war er endlich wieder ein echter Faktor im deutschen Spiel.
„Ich freu mich, wenn er so agil ist und einfach mit einer Leichtigkeit unterwegs ist. Das ist schon beeindruckend“, sagte Flick. „Im Moment hat man das Gefühl, er hat sehr viel Selbstvertrauen. Das ist etwas, was er auch braucht.“ In Stuttgart verdiente sich Sané schon früh den Szenenapplaus des Publikums – und das nicht etwa für ein feines Dribbling oder einen spektakulären Torschuss, sondern für einen Sprint zurück und eine beherzte Grätsche in der Defensive.