Sie malochten ein halbes Leben zusammen unter Tage und lebten Tür an Tür. Doch Olaf Bock und Heinz Küffhausen streiten bis heute über die entscheidende Frage: Schalke oder Dortmund?
Dieser Text erschien erstmals im 11FREUNDE-Spezial „Ruhrgebiet“.
Castrop-Rauxel, Zechensiedlung. Das allein kratzt manchem schon im Hals.
Eine ganze Straße mit den gleichen Vorgärten, den gleichen Fassaden, den gleichen Türen, Spitzdach an Spitzdach. Die Bergarbeiter aus der Gegend bekamen früher diese Häuser hier zugeteilt, sie alle hatten den gleichen Job, bekamen den gleichen Lohn, wohnten nebeneinander. Fast ein Abbild einer egalitären Gesellschaft. Am Wochenende wuschen die Männer hier die Autos, aufgereiht die ganze Straße entlang, im Radio lief „Tore, Punkte, Meisterschaften“. Danach große Runde am Gartenzaun bei Pils, Korn und Ernte 23. Jeden Sommer, manchmal schon im März, liegen die Rauchschwaden über den Dächern, nunmehr nicht von den Zechen, sondern von den Myriaden an Holzkohlegrills. Die Siedlung ist ein einziges Barbecue.
Schmelztiegel Garten.
Wenn die Klingelschilder verblichen sind, unterscheiden sich die Hauseingänge eigentlich nur noch anhand der Fahne am Fenster. Blau-weiß oder schwarz-gelb. Die Symbole der Glaubensgemeinschaften, die friedlich nebeneinander existieren. Wobei: Was heißt eigentlich friedlich?
Olaf Bock öffnet die Tür, vielleicht 1,70 Meter groß, graue Jogginghose, Schalke-Käppi, Schalke-Trikot, eigentlich ist der ganze Mensch Schalke. „Huntelaar“ steht hinten auf dem Leibchen. Große Augen, Schnäuzer, untersetzte Figur. Er schreit laut auf, lacht, bittet herein, lacht sich schlapp und redet dann los, auch laut. Es geht direkt um den lokalen Fußball. Hömma, weiße, kennse. Dem sein Bengel pöhlt da auch. Wenn Olaf Bock spricht, dann mit dem ganzen Körper. Das eine Bein auf dem Hocker, das andere wippt auf den Fliesen. Ich guck, Hände auf die Augen, richtig töfte, der Mund küsst Zeigefinger und Daumen, geht nur um hier …, reibt drei Finger an den Daumen, Tatter, Kohle, Knete, dann Arme in die Höhe.
Es ist, als wäre der Geist eines Napolitaners mitsamt seiner ausufernden Gestik und Mimik in diesen 55 Jahre alten Bergmann aus dem Ruhrpott gefahren. Dabei hat er nur neun Finger, einer ging bei einem Unfall auf einer Baustelle über den Jordan. Bock war jahrzehntelang auf dem Pütt, also unter Tage. Er ist Püttrologe, so sagt man hier, wie alle in dieser Straße.
Heinz Küffhausen öffnet die Tür, zusammengekniffene Augen, verschmitztes Lächeln. Er führt den Besucher in das Esszimmer, erst mal eine rauchen. Er erzählt langsam, schaut sein Gegenüber lange an, dann stößt er die Pointe aus, lacht kehlig und zieht genüsslich an der Zigarette. Erst nach einiger Zeit steht er auf, um seine BVB-Devotionalien von oben zu holen, die Fahne, das Hemd, den Autogrammball aus den Neunzigern, Teddy de Beer hat auch unterschrieben. Erstes Spiel mit Dortmund, boah, dreinsechzich – „da ging noch die Lutzie ab, hömma“. Der Vater war auf dem Pütt, da hat Küffhausen keine Wahl gehabt, du gehs aum Pütt, zack, Ende, so war das. Er hat noch auf Zeche gelernt, mit 14 Jahren direkt nach der Schule angefangen. Heute ist er 66 Jahre alt. „Sechs Pütts hab ich mit zugemacht“, sagt er und nickt sich selbst zu. „Sechs.“
Küffhausen senkt die Faust auf den runden Küchentisch und zählt mit den Fingern ab, während er seine Stationen aufsagt. Victor 1/2, Victor 3/4, Zeche Erin, Zeche Waltrop, Monopol in Bergkamen, Auguste Victoria in Marl. Lebensetappen im Revier. Zu jeder einzelnen fällt ihm eine Anekdote ein. Wie die Frauen kurz vor Heiligabend neben dem Pförtner mit Fahrradluftpumpen drohten und den Männern die Lohntüten abjagten. Nur damit die nicht das Weihnachtsgeld in der Kantine versaufen konnten. Wie der Weihbischof zu Besuch auf Zeche war und seinem Kumpel den Schnupftabak wegsniefte. Küffhausen musste den Kollegen zurückhalten, doch der schrie: „Ihr vonne Kirche seid doch alle Verbrecher, ich hab noch ne volle Schicht, wie soll datt gezz gehn?!“ Geschichte um Geschichte.
Nur bei einem Thema verfinstert sich die Miene von Heinz Küffhausen: bei Olaf Bock.
Es gibt die Hollywoodfilme mit Walther Matthau und Jack Lemmon, in denen sich die beiden zeit ihres Lebens bekriegen und sich selbst im hohen Alter noch an den Kragen wollen. „Immer noch ein seltsames Paar“, so der Titel ihres letzten gemeinsamen Films, hätte auch eins zu eins von Küffhausen und Bock handeln können. Jahrzehntelang gingen die beiden zusammen auf Zeche, sie waren direkte Nachbarn, wechselten zusammen den Pütt. Als auch die letzten Zechen dichtmachten, musste eine andere Tätigkeit her. Die Bergleute definieren sich über ihre Arbeit, zu Hause zu sitzen oder krankzufeiern, das gilt als ein Zeichen von Schwäche. So arbeiteten sie zusammen bei einem Industrieservice, putzten die Böden, Kessel und Treppen in Fabriken. Der eine schimpfte auf den anderen, sie tauften sich gegenseitig „Bowlingkugel“ und „Sabbelkopp“. Heute betreut Küffhausen gehandicapte Kinder bei Busfahrten, Bock ist Hausmeister in einem Seniorenheim. Die Biografien mögen sich gleichen, 30 Jahre Nachbarn, 30 Jahre Arbeitskollegen.
Doch das Leben der beiden unterscheidet sich an einem, dem wichtigsten Punkt: Der eine ist Schalker, der andere Dortmunder.
Zwei unterschiedliche Lieblingsvereine, das mag woanders vielleicht eine Petitesse sein, doch nicht in dieser Ecke der Welt. Hier, wo die Frage „Wie geht es dir?“ mit dem Ergebnis vom Wochenende beantwortet wird. Eine Ecke, in der manche Eltern eben nicht stolz der Verwandtschaft vorführen, wie ihr Sprössling schon vor der Einschulung die Primzahlenreihe aufsagen kann, sondern wie er lückenlos die Aufstellung von Schalke oder Dortmund beherrscht. Und eine Ecke, in der sie dafür nicht Geringschätzung, sondern aufrichtige Anerkennung ernten. Hier hängt der Spielplan direkt neben dem Kalender an der Küchenwand. Der Termin des Revierderbys ist dicker rot markiert als der eigene Geburtstag. Olaf Bock und Heinz Küffhausen trafen sich in all den Jahren auch nach der Arbeit auf eine Flasche Bier am Gartenzaun. Die Leute hier lernen ja klischeegemäß bereits im Brutkasten, wenn nicht sogar pränatal, zwei Grundtugenden: eben nicht nur datt Malochen, sondern auch datt Klönen, also das Erzählen.
Was den Römern der Versammlungsort Forum war, ist den Püttrologen die Trinkhalle oder der Gartenzaun. „Mein Haus ist dein Haus“ heißt hier „Komma ruhich bei mich in Gatten“. Hier verquatscht man schon einmal den Nachmittag, und meistens geht es natürlich um den Fußball, das Grillen oder beides. Der Garten oder die dort befindliche Laube erfahren Pflege und Achtung, als stünden sie nicht im Herzen von Castrop-Rauxel, sondern in der Peripherie von Sanssouci. Das hier ist die Schule für Schlagfertigkeit und Pointensicherheit – und so wäre es verschenkt, würde man die Anekdoten in indirekter Rede oder gar in Hochdeutsch nacherzählen.
Olaf Bock über die verpasste Meisterschaft 2001:
Ich denk, wir sind Meister. Schön raus ausse Kneipe, und ab nach Hause. Ich denk auf eima: Sauba, ich hab noch ne eiskalte Kiste Bier zu Hause, astrein. Ich komm da rein, da fällt mir alles ausm Gesicht. Bayern an Jubeln, alles scheiße, ich an Heulen wien Schlosshund. Und der Bayern-Fan, der Nachbar von paar Häuser weiter, iss da drüben an Tanzen. Ich denk, watte ab, du Schweinesack. Gezz hatte ich noch schön n paar Knallfrösche von Silvester in Keller, zack, rüber. Und n Kübel Krautsalat, alles rübergeschmissen. Der iss gesprungen, aber da war Ruhe. Hier iss schon watt abgegangen teilweise.
Heinz Küffhausen über Ottmar Hitzfeld:
Ich hab den Hitzfeld ma richtich watt kommen lassen. Hitzfeld war noch Spieler, datt war Stuttgart gegen Dortmund. Da hattern dickes Foul gemacht, ich hatte son Rochus auf den. Auffem Gang zur Kabine bin ich rüber und hab ihm n paar Takte gesacht. Da wurd er ösig und frech, hat er n Gelben hochgeholt und mir inne Fresse gerotzt. Ich über die Barriere und hab ihm voll eine getafelt. Er sachte: Ich zeig dich an. Ich sach: Hier iss mein Name, Heinz Küffhausen, kanns mich anzeigen. 30 Jahre später steht mein Ottmar im Westfalenstadion nach der Meisterschaft und die Spieler und er am Zapfen für die ganzen Fans. Ich mich durchgedrängelt mitte Ellebogen nach vorn und ich sach: „Na, Ottmar?! “ Er guckt. „Nee, ne?! Ker, Heinz, wie geht’s dir denn? Wie viel willse?“ Da hatter gezapft wien Weltmeister. Da sindse alle ausse Socken gesprungen.
Eigentlich müsste man die beiden Sonntag für Sonntag als Experten in den „Doppelpass“ auf Sport1 einladen, um die Quote der Sendung in die Höhe schnellen zu lassen. Doch Bock und Küffhausen setzen sich nicht mehr an einen Tisch. Sie haben sich zerstritten. Nicht eine einfache Meinungsverschiedenheit, sondern eine heftige Auseinandersetzung bis vor Gericht hat die beiden endgültig auseinanderdividiert.
Es ging um Ruhestörung, Lärmbelästigung. Stein des Anstoßes war Olaf Bocks Gartenlaube, die er sich zur Weltmeisterschaft 2006 selbst zusammengezimmert hat. Er sagt noch heute die Bestmarken aus jenem märchenhaften Sommer auf wie Eltern das Gewicht und die Größe ihres Kindes bei der Geburt: 460 Liter Bier, 40 Kilo Kotelettes betrug die Grundversorgung über die vier Wochen hinweg. Der „Getränkefritze “, so sagt er, sei gar nicht mehr mit der Lieferung nachgekommen. Bock und seine Freunde hätten quasi in der Laube gelebt.
Noch heute ist diese Gartenlaube mehr als ein Refugium, sie ist gerade an einem Bundesligawochenende ein zweiter Wohnsitz mit magischer Anziehungskraft. Sky läuft hier von Freitag- bis Sonntagabend durch. Trikots von Schalker Legenden wie Raul, Bordon oder Sand, Fotos mit dem DFB-Pokal und Fahnen hängen an der Wand, das einzige Poster ohne Fußballbezug kündet von der Peter-Maffay-Tour 1988. Eine Ecke allerdings ist in Schwarz-Gelb gehalten, Bocks Frau Bettina hält den Dortmundern die Treue. „Meine alte Biene Maja, meine liebe Zecke, mein Schatz“, nennt er sie.
Mit Heinz Küffhausen, seinem schwarz-gelben Nachbarn, geht er weit weniger liebevoll um.
Nach unzähligen Partys wurde es Küffhausen zu bunt, er wollte in Ruhe Fußball schauen, nicht mit lauten Vereinsliedern und AC/DC im Ohr. Immer wieder gerieten sie aneinander, bis Küffhausen sich eine neue Wohnung suchte. Er sagt: „Je mehr Blau-Weiß reingefallen iss, umso bekloppter wurde der. Der hat Stress mitte ganze Nachbarschaft. “ Olaf Bock sagt: „Je älter der wird, umso schlimmer. Datt hasse nich mehr ausgehalten, sachten die andern Nachbarn auch.“ Jetzt wohnen sie gut 20 Minuten voneinander entfernt. Der Umzug war für beide besser, sagen sie.
In letzter Zeit ist das Revierderby wieder in Verruf geraten. Die Vereine überlegten, nach den jüngsten Ausschreitungen keine Gästefans mehr zuzulassen. Bestimmte Fangruppen messen die Brisanz und die Bedeutung daran, wie viel im Umfeld des Spiels passiert. Auf beiden Seiten werden Fahnen und Schals geklaut, Unbeteiligte geraten zwischen die Linien, zu oft kommt es zur Gewalt. Das ist leider schon lange so, in den achtziger Jahren war es sogar noch heftiger. Doch die Frage bleibt, ob sich Schalker und Dortmunder wirklich hassen. Sie lieben sich wirklich nicht, aber hassen?
Der amerikanische Schriftsteller Elie Wiesel hat einmal geschrieben, das Gegenteil von Liebe sei nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. Schalker schauen nach ihrem Spiel direkt das Resultat der Borussen nach – und umgekehrt. Sie lesen in der Zeitung alle Berichte über den Rivalen. Zwei Arbeitervereine, die nun zu Schwergewichten auf dem Fußballmarkt aufgestiegen sind und wie nur wenige andere Klubs unter dem Spagat zwischen Tradition und Moderne ächzen. Sie sind sich eigentlich zu gleich, um einander wirklich zu hassen.
Dieses Derby ist nicht so besonders, weil die eine Seite der anderen mehr Schals oder Fahnen klaut als sonst wo. Wer so etwas sagt, hat nichts verstanden. Dieses Derby ist so besonders, weil es jeden Tag am Gartenzaun ausgefochten wird, an der Trinkhalle, auf der Arbeit, 365 Tage im Jahr. Es gibt keine Pause. Verbales Pressing und Gegenpressing auf engstem Raum.
Sie können nicht miteinander. Sie können nicht ohne einander. Doch sie würden eher mit Heftzwecken gurgeln, als das zuzugeben. Obwohl sie es wissen.
Heinz Küffhausen und Olaf Bock erkundigen sich kurz über den anderen. Ob sie sich noch einmal zusammen ..? Nein. Nein, nein. Auf keinen Fall.