Im Spätherbst seiner nie stattgefundenen Karriere erlebte Stephan Reich den Höhepunkt seines Fußballerdaseins. Dank des neuen Redaktionspraktikanten, eines gewissen Thomas Hitzlsperger.
Ich hab es ja immer gewusst. Andere mögen der Meinung gewesen sein, es mangele an Talent, ich sei zum Schreien lauffaul, oder dass man mit so einem Bauch gar nicht professionell Fußball spielen könne. Aber ich habe es immer gewusst. Das technische Rüstzeug, die Eiseskälte vor dem Tor, der Blick für Spielsituationen – ich war immer sicher, dass ich prinzipiell in ein Team gehöre, das mit Nationalspielern gespickt ist. Oder zumindest mit einem. Und wie sehr ich recht hatte. Ha!
Aber der Reihe nach, denn: Eigentlich hat meine Fußballkarriere nie stattgefunden. Warum, ist mir schleierhaft. War nicht ich es, der einst in einem E‑Jugend-Spiel gleich siebenfach gegen die zweite Mannschaft getroffen hatte? Sollten die beiden errungenen Halllen-Kreismeisterschaften in F- und D‑Jugend gänzlich umsonst gewesen sein? Und was war mit dem gewonnenen Kreispokalfinale, mit dem mein Sturmpartner Sebastian dank seiner zwei Tore meine Jugendzeit erfolgreich abrundete? War das denn nichts?
Anscheinend nicht. Offensichtlich waren die Scouts meiner heißgeliebten Eintracht aus Frankfurt nur sporadisch in der Nordhessischen Provinz zugegen, sodass ich umdisponieren und Germanistik studieren musste, anstatt mich im Frankfurter Jugendinternat zum Weltmeisterschaftskapitän und ‑Torschützenkönig 2014 ausbilden zu lassen, der mit Serienmeister Eintracht Frankfurt die Liga aufmischt. Schade, klar, aber mit der Zeit arrangierte ich ich damit. Trotzdem, siehe oben, glaubte ich natürlich weiterhin unbeirrbar an meine Profi-Eignung und die Chance, sie irgendwann einmal unter Beweis stellen zu können. Und sei es nur für einen kurzen Moment.
Und dieser Moment sollte kommen, in Person unseres neuen Mitarbeiters. Mitte des Jahres nämlich kam Thomas Hitzlsperger in die Redaktion, der sich für die Zeit nach der Karriere beruflich neu orientieren wollte und deshalb ein Praktikum bei uns begann. Endlich ein Fußballer auf Augenhöhe, dachte ich und klatschte wissend ab. Ha! Thomas schwieg. Wenige Tage später vereinbarten wir mit der Redaktionsmannschaft einen Hobbykick gegen die Freizeitmannschaft eines Bekannten. Ich wusste: Heute würde meine Stunde schlagen.
Ich würde brillieren und anschließend über Thomas’ Kontakte doch noch im bezahlten Fußball landen. Endlich. Ob er jemanden bei Frankfurt kannte? Mal fragen. Stuttgart wäre sicher auch eine Option für ein 30-Jähriges Nachwuchstalent wie mich. Andererseits: In Wolfsburg verdient man bekanntermaßen am besten. Oder vielleicht doch zu West Ham? Die Premier League ist schließlich immer reizvoll.
So sinnierte ich über meine nun endlich an Fahrt aufnehmende Karriere, schnallte mir den Rückengurt um die Wampe, den ich wegen meiner chronischen Hexenschüsse tragen muss, und trabte aufs Feld. Ich hatte darauf verzichtet, mir bunte Schuhe zu kaufen, die würde ich ja eh bald von meinem Ausrüster gestellt bekommen, und während ich noch darüber nachdachte, ob mir vielleicht eine Gel-Frisur à la Cristiano Ronaldo stünde oder ein Zöpfchen à la Baggio – schließlich brauchen die großen Individualisten immer eine Art Markenzeichen –, lagen wir schnell 0:3 hinten.
Nach einer kleinen Verschnaufpause, die ich würgend an der Seitenlinie verbrachte, kam ich wieder ins Spiel. Bei Thomas hatte sich eine leichte Wesensveränderung vollzogen. Der nette, höfliche Kerl vom Redaktionsflur grantelte nun ein wenig ob der mangelnden Klasse seiner Mitspieler. Selbstverständlich sah ich das genauso. Amateure, dachte ich und nickte ihm wissen zu. Thomas schwieg. Ich wusste: Jetzt war es an uns Profis, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Kopf hoch und mit breiter Brust vorangehen, dass sich die unerfahrenen Mitspieler an uns aufrichten könnten.
Dann, als es 0:5 stand, kam er endlich, mein großer Moment. Ein langer Ball wurde auf meinen rechten Flügel geschlagen, auf dem ich aus Konditionsgründen gerade die Defensivarbeit verweigerte. Mit etwas Mühe erreichte ich den Ball und zog in Richtung Tor. Erschöpft von den knapp zehn Minuten gespielter Zeit, legte ich mir in einem unkonzentrierten Moment den Ball ein wenig zu weit vor, sodass mein mich seitlich überholender Gegenspieler drohte, vor mir an den Ball zu kommen. Mit einer Finte, die man nur als „sensationell“ beschreiben kann, drehte ich mich aus dem direkten Laufduell heraus, und noch bevor der nächste Gegenspieler von vorne auf mich zugerannt kam, spitzelte ich die Kugel mit dem letzten Schwung, den mein teigiger Körper noch aufbringen konnte, in die Mitte zu Hitzlsperger.
Gut, dass Thomas den Ball auch sensationell traf und aus 25 Metern ins Eck drosch, sei an dieser Stelle nicht unterschlagen. Aber bestimmt 70 Prozent des Treffers gehörten mir, wahrscheinlich sogar mehr. Thomas war 52-facher Nationalspieler, das hatte ich zuvor gegoogelt. War also ich nicht in diesem Moment auch Nationalspieler? Zumindest zu einem Zweiundfünfzigstel? In Mathe war ich leider nie so gut gewesen. Zufrieden trabte ich zur Seitenlinie, um den Jüngeren Spielzeit zu ermöglichen.
Als ich mich im Anschluss an meinen Sensations-Assist an der Seitenlinie von den Strapazen erholte, suchte ich die Tribüne nach Talentscouts ab. Viele Menschen saßen dort nicht, vielleicht drei, von denen ich auch noch zwei kannte. Aber der dritte, der war ganz bestimmt ein Scout. Und dem wird ja nicht verborgen geblieben sein, dass ich ehemaligen Nationalspielern die Tore auflegen kann. Auf den Anruf warte ich derweil immer noch. Aber das muss ja nichts bedeuten. Im Fußball kann es schließlich oft ganz schnell gehen. Ha!