Nach neun Jahren Juve-Dominanz hat Antonio Conte Inter Mailand souverän zur italienischen Meisterschaft geführt. Die Mannschaft lieferte konstant ab – Kritik an der Spielweise hält sich dennoch hartnäckig.
Man hat sich in den vergangenen Jahren daran gewöhnt, dass der italienische Meister bereits mehrere Spieltage vor Saisonende feststeht. Und auch in dieser Saison wird es kein Herzschlagfinale geben – anders als in den neun Spielzeiten zuvor heißt der Titelträger aber nicht Juventus, sondern Inter. Mit 13 Punkten Vorsprung vor dem Tabellenzweiten Atalanta Bergamo ist Inter Mailand der Titelgewinn seit dem vergangenen Wochenende nicht mehr zu nehmen. Nach dem 1:1‑Unentschieden Atalantas am Sonntagnachmittag gab es in Mailand kein Halten mehr: Trotz Pandemie überfluteten tausende Interisti die Piazza del Duomo. Auf Kritik am Vorgehen der Polizei antwortete Mailands Bürgermeister Giuseppe Sala lapidar: „Natürlich war damit zu rechnen, aber es ließ sich nun mal nicht verhindern, dass die Menschen auf die Straße strömen.“
Die letzte Meisterschaft hatte Inter 2010 mit José Mourinho gefeiert, damals gelang der historische Triple-Gewinn inklusive Champions-League-Triumph gegen den FC Bayern München. Seitdem versuchte sich im Schnitt jedes Jahr ein neuer Trainer am Mailänder Traditionsklub, teilweise hielten sich diese gar nur wenige Wochen im Amt. Zwischenzeitlich erreichte man für das eigene Selbstverständnis unwürdige Platzierungen wie Siebter (2017), Achter (2015) oder Neunter (2013). Zwar führte Luciano Spalletti Inter 2018 und 2019 wieder zurück in die Champions League, auf die Meisterschaft schien aber der ungeliebte Rivale Juventus ein Abonnement zu besitzen. Doch in der kommenden Saison wird Inter zum 19. Mal den „Scudetto“ – die kleine Italien-Fahne, die dem Meister vorbehalten ist – auf dem Trikot tragen. „Wir haben es geschafft, ein Reich zum Einsturz zu bringen, das neun Jahre überdauert hat“, sagte Trainer Antonio Conte am Wochenende stolz. Wie hat Inter das gemacht?
„Wir haben es geschafft, ein Reich zum Einsturz zu bringen“
Für den früheren Inter-Kapitän und heutigen Sky-Experten Giuseppe Bergomi trägt der Erfolg einen Namen. „Der entscheidende Faktor hieß Antonio Conte. Antonio hat ein stets kompliziertes Umfeld kompakt zusammengehalten“, sagte Bergomi im Interview mit dem „Kicker“. In seinem ersten Jahr als Trainer der Nerazzurri verpasste der 51-jährige Apulier, der während der Spiele neunzig Minuten lang unter Strom steht, seinem Team eine klar erkennbare Identität. In der Meisterschaft landete man auf Rang zwei, in der Europa League scheiterte Inter erst im Finale am FC Sevilla. In seiner zweiten Saison hat Conte nun den ersten Titel eingefahren.
So viel Liebe wie Mourinho erfährt Conte als ehemaliger Juve-Kapitän und späterer ‑Trainer nicht, Respekt hat er sich inzwischen aber verdient. Vize-Präsident Javier Zanetti sagte zuletzt gegenüber der argentinischen Zeitung „La Nación“: „Am Anfang haben ihn die Inter-Fans sicher etwas kritisch beäugt, aber ich glaube, sie haben an seiner Art zu arbeiten sofort gemerkt, dass er sich zu einhundert Prozent anstrengen würde.“ In seiner ersten Saison stichelte Conte noch öffentlich gegen die chinesischen Klubbesitzer und klagte über mangelnde Rückendeckung, die Zeichen standen zwischenzeitlich bereits auf Trennung. Doch nach einer Krisensitzung im Sommer rauften sich Conte, Sportdirektor Giuseppe Marotta, Vize-Präsident Zanetti und der junge Präsident Steven Zhang zusammen.
„Für Conte würde ich bis zum Tod kämpfen“
Wie schon bei Juve (2011−2014), der italienischen Nationalmannschaft (2014−2016) und Chelsea (2016−2018) ist es dem Trainer gelungen, aus Einzelspielern ein Team zu formen, in dem sich niemand für Defensivarbeit zu schade ist. Bestes Beispiel ist Romelu Lukaku (21 Tore), der gemeinsam mit dem Argentinier Lautaro Martinez (15 Tore) eines der gefährlichsten Sturmduos Europas bildet. Anders als Vorgänger Mauro Icardi hat der Belgier nicht nur eine starke Torquote, sondern reibt sich 90 Minuten lang für die Mannschaft auf. „Für Conte würde ich bis zum Tod kämpfen“, verriet er jüngst gegenüber „The Player’s Tribune“, nach dem Gewinn des Scudetto fuhr er mit offenem Verdeck durch die Stadt und ließ die Inter-Hymne aus den Lautsprechern laufen. Im Mittelfeld verbinden italienische Nationalspieler wie Nicolò Barella oder Stefano Sensi Kampfgeist und Spielintelligenz, ebenso wie in der Abwehr der zweikampf- und spielstarke Linksfuß Alessandro Bastoni. Neuzugänge wie Achraf Hakimi oder Christian Eriksen fremdelten anfangs mit den strengen taktischen Vorgaben und der vielen Defensivarbeit, doch auch sie passten sich dem Conte-Stil an: In der entscheidenden Phase der Saison, in der Inter elf Siege in Serie einfuhr, avancierten beide zu Leistungsträgern.