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Seite 2: „Die Mulis sind alle krepiert. Wir nicht.“

Dettmar Cramer, 1925 in Dort­mund geboren, war wegen des Krieges eine aktive Kar­riere als Fuß­baller nicht ver­gönnt. 1942 wurde er Fall­schirm­jäger, sprang über dem Sudan ab, über Kreta, Minsk, Süd­frank­reich, über dem Ätna. Die Mulis, die unsere Aus­rüs­tung tragen sollten“, erzählte er, sind alle kre­piert. Wir nicht. Was mich am Leben erhielt, waren mein Wille, das Glück – und die vage Hoff­nung, dass eines Tages der Ball wieder rollen würde.“

Im Winter 1946 kehrte er aus der Gefan­gen­schaft zurück, mala­ria­krank und mit­tellos, der Wind pfiff mir durch die Backen“. Doch schon im April des­selben Jahres wurde er Spie­ler­trainer bei Teu­tonia Lipp­stadt – und 1949, mit gerade einmal 24 Jahren, Her­ber­gers Assis­tent und der Trüm­mer­mann des deut­schen Fuß­balls. Gemeinsam mit seinem Zieh­vater baute er nach dem Krieg die deut­sche Natio­nal­mann­schaft wieder auf, orga­ni­sierte Spiel­be­trieb und Trai­nings­lehre, holte die Ver­sprengten in der legen­dären Sport­schule Duis­burg-Wedau zusammen.

Ich habe uner­müd­lich gear­beitet“

Wenn man besser werden kann, ist gut nicht gut genug: Dieser Leit­spruch Her­ber­gers prägte Cramer. Ich war getrieben“, sagte er. Mir wurde schnell klar, dass man die Dinge im Fuß­ball nie ein für alle Mal zu Ende bringen kann.“

Wir müssen uns Dettmar Cramer als glück­li­chen Men­schen vor­stellen. Als Sisy­phos des Fuß­balls, dessen Kampf gegen Gipfel sein Herz aus­füllte. Ich habe uner­müd­lich gear­beitet“, erin­nerte er sich. Mor­gens um halb sieben weckte ich die Spieler, abends um halb zehn brachte ich sie ins Bett. Spät abends habe ich mich daran gemacht, Lehr­bü­cher zu ver­fassen. ›Schreib es auf, Dettmar! Ich habe keine Zeit‹, hat Her­berger gesagt. ›Schreib es auf!‹ Bis in die Nacht habe ich getippt. Im Zwei­fin­ger­system! Ich hielt mich wach, indem ich liter­weise Cola trank.“

Neun Jahre nach dem Krieg wurde Deutsch­land Welt­meister. Cramer war stolz auf diesen Erfolg, das schon – aber die volks­tü­melnde Auf­la­dung des Finales von Bern war ihm suspekt. Wir sind wieder wer“, hatte DFB-Prä­si­dent Peco Bau­wens ver­kündet. Cramer ent­geg­nete später spöt­tisch: Darf ich mit George Ber­nard Shaw ant­worten? Dass ich nicht lache! Schauen Sie auf die Bilder: In Fritz Wal­ters und Sepp Her­ber­gers Gesich­tern sieht man keine Spur von Tri­umph­ge­fühl.“ Es sei ein Sieg in einem Fuß­ball­spiel gewesen, nicht mehr, nicht weniger.

Ein Sieg, wie Cramer noch viele erringen sollte: In den über siebzig Län­dern, in denen er als FIFA-Trainer fun­gierte, beim FC Bayern, mit dem er zwei Mal den Euro­pa­pokal der Lan­des­meister gewann. Was ihm aber stets ebenso wichtig erschien wie der sport­liche Erfolg, da war er ganz Turn­vater Cramer, war die cha­rak­ter­liche Ent­wick­lung seiner Schütz­linge, die Her­zens­bil­dung.

Trainer zu sein“, sagte er, hat eine päd­ago­gi­sche Seite. Und das erstreckt sich aufs Pri­vate. Damit meine ich nicht den Zirkus aus Spie­ler­frauen und Bera­tern, den man heute kennt. Ich meine die Ursprünge des Ein­zelnen, die Ver­hält­nisse, aus denen er stammt. Günter Netzer kam noch mit dem Fahrrad zum Trai­ning ins Leis­tungs­zen­trum nach Duis­burg – 38 Kilo­meter hin und 38 Kilo­meter zurück, vier Mal die Woche. Er hat besessen trai­niert, auch wenn er heute gern das Gegen­teil behauptet. Das muss man wissen, wenn man über ihn nach­denkt.“

Und natür­lich hatte er Recht

Dettmar Cramer kannte immer die wahre Geschichte hinter der Über­lie­fe­rung. Und er nahm es genau: Die Abschriften seiner Aus­füh­rungen, die man ihm zur Auto­ri­sie­rung zuge­schickt hatte, sahen, wenn sie per Fax zurück­kamen, aus wie die Klas­sen­ar­beit eines unter­durch­schnitt­li­chen Schü­lers, hand­schrift­lich durch­kor­ri­giert von Fuß­ball­lehrer Cramer, ergänzt um neue Pas­sagen, die er mit der Maschine getippt hatte. Und natür­lich hatte er Recht. Natür­lich ließ man sich gern eine Lek­tion von ihm erteilen.

Ges­tern ist Dettmar Cramer im Alter von 90 Jahren in Reit am Winkl ver­storben. Nun muss der Fuß­ball, müssen wir zeigen, was wir von ihm gelernt haben.