Er war der Sisyphos des Fußballs, der Kampf gegen Gipfel füllte sein Herz aus. Nun ist Dettmar Cramer, der große Pionier, Lehrer und Menschenfreund, im Alter von 90 Jahren verstorben.
Wenn man zu ihm kam, in seinen Bungalow im bayrischen Reit im Winkl, dann stand er zur verabredeten Zeit schon am Gartentor. Als wäre er immer noch der Trainer, der einen Spieler zur Extraschicht erwartete. „Grüße Sie!“, rief er, freundlich und streng zugleich. „Wie geht es?“ Und man prüfte sich unweigerlich sofort, ob man denn auch gut genug vorbereitet sei für eine Einheit bei diesem Jahrhundertübungsleiter, der, obwohl bereits weit über 80, nun vor einem stand im ballonseidenen Trainingsanzug und in Turnschuhen, eine unsichtbare Trillerpfeife an einem Schnürchen um den Hals. „Dann wollen wir mal.“
Ein Interview im eigentlichen Sinne mit Dettmar Cramer zu führen, Frage, Antwort, Frage, Antwort, war schlicht unmöglich. Es war immer eine Lektion, die er einem erteilte. Er dozierte, illustrierte, fragte zurück, regte zum eigenen Reflektieren an. Es war ihm wichtig, dass man auch verstanden hatte, worum es ihm ging, und dass man nicht einfach nur nach Hause fuhr mit einem vollen Diktiergerät in der Tasche, die Tonspur abtippte und zum Nächsten überging. Man sollte etwas lernen, denn er war ja schließlich Fußballlehrer. „Anreiz“, so zitierte er einmal den spanischen Philosophen José Ortega y Gasset, „ist das Wort, das am meisten nach Leben schmeckt.“
…dann war man gänzlich aus der Zeit gefallen
Immer wieder zog er Fotoalben aus den endlosen Regalmetern hervor, die sein Arbeitszimmer durchzogen, Ordner, Lehrbücher, Biographien, und trug sie zu dem gekachelten Tisch, an dem man mit ihm saß und an dem aus den vereinbarten 90 Minuten Gespräch rasch drei Stunden wurden und manchmal ein halber Tag. Mitunter klingelte das Telefon, und er entschuldigte sich für ein paar Minuten. Man konnte dann zuhören, wie er mit Karl-Heinz Rummenigge telefonierte, mit Franz Beckenbauer oder Uli Hoeneß. „Sie sind alle meine Söhne“, sagte er anschließend. „Aber wo waren wir stehengeblieben?“
Wenn man am Ende eines solchen Nachmittags im Hause Cramer wieder nach draußen trat und die Chiemgauer Alpen grüßten wie in einem Heimatfilm, dann war man gänzlich aus der Zeit gefallen. Gut möglich, dass im Stadtzentrum, wo man in den Bus zurück nach München steigen wollte, Buben in Lederhosen den Sieg im Finale von Bern feiern würden. Dass Sepp Herberger noch lebte und der Fußball noch nicht zum von disneyhaftem Marketingkalkül korrumpierten Event verkommen war. Dass es immer noch nur um das ging, was Dettmar Cramer so wichtig war: um den Sport an sich.