Berühmt wurde er als letzter Fan seiner Mannschaft. Mit ihm als neuen Präsidenten gewann Santa Cruz FC den ersten Pokal der Vereinsgeschichte. Das ist die unglaubliche Geschichte von Tiago Rech.
Im Februar 2012 hatte Tiago Rech eine schwere Entscheidung zu treffen. Am Wochenende hätte er, der 27-jährige Journalistik-Student aus Brasilien, der nebenher für verschiedene Medien arbeitete, endlich einmal frei. Und es wäre nur eine kleine Reise, um raus aus Porto Alegre und zum Strand zu fahren, wo seine Familie und seine Freunde auf ihn warten würden. Andererseits würde zeitgleich Santa Cruz FC, sein Heimatverein aus dem Hinterland, an diesem Wochenende gegen Grêmio spielen. Nicht, dass der Amateurverein eine reelle Chance hätte, aber: Wer weiß? „Was passiert, wenn Galo (der Hahn, Wappentier von Santa Cruz, d. Red.) gegen Grêmio gewinnt? Werde ich das bereuen? Die größte Leistung aller Zeiten nicht gesehen zu haben?“ Erinnert sich Tiago Rech im Gespräch mit Globo Esporte. So fängt die Geschichte an, die ihn, den Fan, zum ersten Titel der Vereinsgeschichte führen sollte.
Und also blieb Rech an jenem Wochenende in der Stadt. Er zog sich ein neutrales T‑Shirt an, stopfte sein Trikot in eine Tasche und ging zum Stadion. Das Olimpico von Porto Alegre hatte schon bessere Tage gesehen. Früher spielte hier die brasilianische Nationalmannschaft, Sting und Madonna füllten die Arena, an diesem Tag würden Gremio und Santa Cruz in der Staatsmeisterschaft aufeinandertreffen. „Ich fragte den Wachmann: ‚Ist schon jemand von Santa Cruz da?’ Und er sagte: ‚Nein, du bist der einzige.‘“ Auf diese Weise gelangte Tiago Rech zum ersten Mal in seinem Leben zur nationalen Berühmtheit.
„Ich fragte den Wachmann: ‚Ist schon jemand von Santa Cruz da?’ Und er sagte: ‚Nein, du bist der einzige.‘“
Denn unter den Augen von 6.734 Gremio-Anhängern und einem Fan des Außenseiters, Tiago Rech, ging Santa Cruz FC in der 17. Minute tatsächlich in Führung. Und die Kameras fingen ein, wie der Student im schwarz-weiß gestreiften Trikot seines Heimatvereins vor Freude die Fäuste ballte. Und sie filmten nur wenig später, wie die Freude schon bald der Enttäuschung wich, als Grêmio das 1:1, das 1:2, das 1:3 und das 1:4 schoss. Und auf den Rängen des Auswärtsblocks saß Tiago Rech, der einsame Verlierer, die letzte treue Seele.
„Ich habe nur zwei Wünsche: dass Santa Cruz nicht als Verein eines einzigen Fans bekannt wird und nicht in die zweite Liga absteigt. Nicht jetzt, wenn wir 100 Jahre alt werden“, sagte Rech in einem Interview nach dem Spiel. Denn in Brasilien ist die Lage komplizierter. Aufgrund der Größe des Landes werden traditionell zu Jahresbeginn die regionalen Staatsmeisterschaften und Pokalwettbewerbe ausgespielt. Weshalb Santa Cruz, dieser kleine Amateurklub aus dem Hinterland von Rio Grande do Sul, Jahr für Jahr auf brasilianische Traditionsvereine wie Grêmio oder SC Internacional aus Porto Alegre traf. Und dabei meist chancenlos blieb.
Und natürlich gingen die Wünsche von Tiago Rech nicht in Erfüllung, schlimmer noch: Santa Cruz stieg kurz darauf, im Jahr des hundertjährigen Bestehens, aus der 1. Liga des Bundesstaates ab, taumelte schwer getroffen hinab in die Drittklassigkeit, und Rech blieb offenbar für immer der letzte, einsame Fan. Nur um in dieser Woche, sieben Jahre später, als Präsident seines Klubs, mit einem Pokal in der Hand den größten Erfolg der Vereinsgeschichte zu schreiben. Und das alles dank eines wahr gewordenen Traums.
„Es sind zu viele Emotionen! Santa Cruz ist mein Leben. Ich habe in meinem Leben viel für diesen Verein aufgegeben. Ich liebe diesen Verein“, erklärte Rech in dieser Woche auf dem Rasen von Santa Cruz. Dort stand er mit dem Pokal in der Hand. Rech, der Einsame, hatte nach dem Abstieg von Santa Cruz ein wenig Karriere gemacht, in Kalifornien studiert, die Welt bereist, er hatte für einen Sender in Porto Alegre gearbeitet. Und er hatte sich 2014 entschieden, alles über Bord zu werfen, für seinen Verein. Und also heuerte er als Pressesprecher an.
Weil Rech in den folgenden Monaten nicht nur die Pressearbeit auf Vordermann brachte, sondern obendrein rechtliche Fragen klärte, Trikots organisierte und mit dem Organisator des traditionellen und in Brasilien zweitgrößten Oktoberfestes einen neuen Sponsor fand, ernannten ihn die Mitglieder von Santa Cruz schon kurz darauf zum neuen Präsidenten seines Vereins.
„Ich wollte immer, dass das passiert. Es war ein Wunsch von mir. Aber ich hatte nicht erwartet, dass es so bald sein würde“, sagte Rech bei seiner Ernennung gegenüber Globo Esporte. Rech brachte die Jugendarbeit auf Vordermann, füllte den Kader der ersten Mannschaft mit jungen Talenten auf und sprach eine Gruppe von regionalen Geschäftsleuten an, die fortan im kleinen Stadion warben. Doch die beste Idee war eine andere.
„Ich hatte den Gedanken, dass Santa Cruz um den FGF-Pokal spielen könnte“, erklärte Rech. Der FGF-Pokal ist ein kleinerer Wettbewerb im Bundesstaat, kaum der Rede wert, wäre da nicht ein kleiner Haken: Denn der Gewinner darf wählen, ob er im kommenden Jahr an der nationalen vierten Liga oder dem Brazil Cup (der nationale Pokalwettbewerb, ähnlich dem DFB-Pokal, d.Red.) teilnimmt. Und Rechs Plan ging auf: Nach einem Weiterkommen im Halbfinale durchs Elfmeterschießen gewann Santa Cruz auch das Finale bei einem 3:1 im Hin- und einem 1:3 im Rückspiel vom Elfmeterpunkt. Und Rech? Ist seit dieser Woche der Held seiner Heimatstadt.
„Wir haben schreckliche Jahre durchgemacht“, erklärte ein zu Tränen gerührter Rech im Interview. „Es waren viele Leute auf der Straße, die ein Trikot trugen, feierten und dem Autokorso folgten. Ich habe Gänsehaut.“ Er ließ es sich nicht nehmen, ein Foto zu machen, dass ihn alleine auf einer Tribüne zeigt. Ganz ähnlich wie das berühmte Foto von ihm aus Porto Alegre. Nur stand diesmal nicht ein halbvoller Plastikbecher neben ihm, sondern der große Pokal. Das Vergleichsfoto ging um die Welt.
Im kommenden Jahr wird Santa Cruz also im nationalen Pokal spielen. Mit einem glücklichen Los könnte der Klub aus der 100.000-Einwohnerstadt schon bald gegen Flamengo, Fluminense oder Palmeiras spielen. „Wir scherzen schon, dass wir bald im Maracanã spielen werden“, sagt Rech. „Wer weiß?“ Wer weiß? Sicher ist nur: Beim nächsten Mal wird Rech nicht alleine im Auswärtsblock stehen.