Auf den Tag vor 30 Jahren starben 18 Spieler der sambischen Nationalelf bei einem Flugzeugunglück. Es war ein Trauma für das kleine afrikanische Land. Wir blicken zurück auf die Tragödie von 1993.
Nach der letzten Trainingseinheit winkt Trainer Godfrey Chitalu kurz zu ihm herüber. Aggrey Chiyangi geht hin, langsam, noch immer brennt an jenem Mittwoch im April 1993 die Nachmittagssonne über Sambias Hauptstadt Lusaka. Der Verteidiger, mit 20 Jahren eines der größten Talente seines Landes, hat gut trainiert, erwartet letzte Anweisungen. Am nächsten Tag reist die Mannschaft zum Qualifikationsspiel für den Afrika-Cup auf Mauritius, direkt danach in den Senegal, zur WM-Qualifikation. Mit ihm – natürlich. Doch der Trainer wählt andere Worte. Ein Verteidiger, der in Marokko unter Vertrag steht, habe kurzfristig die Freigabe von seinem Verein für die Länderspiele bekommen: „Es tut mir leid, aber du fliegst nicht mit.“
Ein entschuldigender Blick, er habe drei anderen Spielern die gleiche Botschaft übermitteln müssen. Doch Chiyangi dreht sich nur wortlos um und geht wütend in die Kabine. Für ihn steht außer Frage, dass er mit seiner Schnelligkeit, der Sprungkraft, der Technik zu den besten Spielern Sambias gehört. Einer auf dem direkten Weg in eine europäische Liga. Hatten ihn nicht deshalb gerade die Power Dynamos verpflichtet, eines der sambischen Top-Teams? Chiyangi bringt in seiner Enttäuschung kaum ein Wort über die Lippen, vor allem das Spiel im Senegal soll den Auftakt von Sambias erster WM-Qualifikation bilden, das historische Spiel würde nun ohne ihn stattfinden. Seine Niederlage, die erste große seiner Karriere.
Es vergehen einige Tage bis zum Morgen des 28. April, der seine Freunde davonreißen und ihm ein zweites Leben schenken wird. Die Haushälterin klopft an die Wohnungstür, aufgeregt, ungewohnt hysterisch. „Aggrey, sie sagen, sie sind alle tot“, stammelt sie, „die Buffalo ist abgestürzt.“ Das klapprige Militärflugzeug, Typ Buffalo DHC-5D, mit der die Regierung ihre besten Fußballspieler seit Jahren quer durch Afrika schickt, ist in der vergangenen Nacht nicht wie geplant im Senegal angekommen. Chiyangi stürzt zum Radio. Die BBC hat gerade eine Sondersendung zu dem Unglück begonnen, das sich kurz nach einem Zwischenstopp vor der Küste Gabuns ereignet hat. Es gebe ersten Erkenntnissen zufolge keine Überlebenden, sagt die Sprecherin. 18 Spieler, dazu die Trainer, Betreuer – alle tot. Chiyangi, der Ausgemusterte – am Leben. Auch wenn es sich nicht so anfühlt. Benommen geht er zum Stadion von Kitwe, der Industriestadt im Norden Sambias. Unterwegs trifft er Mannschaftskameraden, die instinktiv den gleichen Weg eingeschlagen haben. Es hält sich noch das Gerücht, es gebe zwei Überlebende, doch so recht kann keiner daran glauben. Eine merkwürdige Stille liegt über der Szenerie. Der Schock hat sich über das gesamte Land mit seinen damals 8,5 Millionen Einwohnern ausgebreitet.
Während sich Chiyangi auf den Weg macht, klingelt viele tausend Kilometer weiter nördlich in einem Haus in Eindhoven das Telefon. Seit 1988 spielt Kalusha Bwalya hier beim PSV in Holland, seit dem Jahr, in dem er bei den Olympischen Spielen in Seoul gegen Italien drei Tore erzielte – das 4:0 hat ihn endgültig zum größten Fußballstar in der Geschichte Sambias gemacht. Er soll erst am Donnerstag in den Senegal reisen. Gerade hat Bwalya seine einjährige Tochter Olivia zu den Nachbarn gebracht, nur für die Stunde, während der er im Wald laufen gehen will. Aber ja doch, das Telefon. Er geht zurück ins Haus.
Der Finanzdirektor des Verbandes ist dran, seltsam, der ruft nie an. „Hallo Kalu? Du musst deine Reise verschieben.“ – „Warum?“ – „Ich kann nicht viel sagen im Moment. Das Flugzeug, es gab einen Unfall. Im Moment sagen die Leute, dass es neun Überlebende gibt.“ Als Bwalya den Fernseher anmacht, berichtet auch CNN live von der Unglücksstelle. Neun Überlebende, denkt der Profi, neun Überlebende. Doch eine Frau spricht in die Kamera: „Es gibt keine Überlebenden.“
Ein Tag wie in Trance, fremdbestimmt. Freunde kommen, sie haben die Arbeit verlassen. Das Telefon klingelt ununterbrochen, bis zum Abend. Die meisten wollen wissen, ob Bwalya an Bord war, was überhaupt passiert ist. Doch der Stürmer weiß auch nichts. Nur, dass er am Leben ist. Und seine Mannschaftskameraden tot sind. Kann das wirklich sein? Der großartige Torwart Efford Chabala, den er so lange kennt, wie er Fußball spielt. Oder Wisdom Chansa, der Liebling der Massen, mit dem er aufgewachsen ist, einer seiner besten Freunde. Die Leute riefen immer „Wiz! Wiz!“, wenn der Stürmer an den Ball kam. Mit ihm hatte er immer zuerst gejubelt, wenn er eines seiner unzähligen Tore geschossen hatte.
Der 28. April 1993 ist ein Tag, an dem der Schrecken über das Telefon kommt. Bei Kenneth Malitoli klingelt es in einem Appartement in Tunis, der Hauptstadt Tunesiens. Erst vor ein paar Wochen ist der Mittelfeldspieler von Nkana FC Kitwe zu Espérance Tunis gewechselt, wie Bwalya ist er jetzt einer von fünf Auslandsprofis, die individuell anreisen dürfen. Als es klingelt, packt er gerade seine Reisetasche. Als er aufgelegt hat, liegt ihm nichts ferner, als sie zu benutzen. In drei Tagen würden die Trauerfeiern in Sambia beginnen, hatte es geheißen. „Bitte flieg nicht“, fleht ihn seine Frau unter Tränen an. „Bitte flieg nicht!“ Noch ist in diesen Stunden nicht klar, was das Flugzeug zum Absturz gebracht hat. Erst zehn Jahre später, im Jahr 2003, wird die Regierung ihren Abschlussbericht vorlegen. Der Pilot sei müde gewesen, heißt es da, er hatte das Team am Tag vor der Abreise erst aus Mauritius zurückgeflogen, wo die Pflichtaufgabe in der Afrika-Cup-Qualifikation locker mit 3:0 erledigt worden war. Die Reise vom Süden Afrikas nach Dakar an der westlichsten Stelle des Kontinents erforderte Tankstopps in Brazzaville (Republik Kongo), Libreville (Gabun) und Abidjan (Elfenbeinküste).
Doch schon in Abidjan kam das Flugzeug nicht mehr an. 500 Meter vor der Küste Gabuns, kurz vor Mitternacht des 27. April 1993, fing der linke Motor Feuer. Der übermüdete Pilot schaltete anstelle dieses Triebwerks offenbar den verbliebenen rechten Propeller ab. Das Todesurteil für 18 Fußballprofis, zwei Trainer, fünf Funktionäre und Betreuer sowie fünf Besatzungsmitglieder – eines der schlimmsten Flugzeugunglücke in der Sportgeschichte. Anders als beim Unglücksflug von München im Jahr 1958, bei dem acht Spieler von Manchester United starben, überlebte hier niemand.
Kenneth Malitoli kennt im Moment des ersten Anrufs keines dieser Details, und doch weiß er Bescheid. Oft hatten er und seine Mitspieler geunkt, dieses Flugzeug werde sie eines Tages alle umbringen. Keiner lachte dabei. Einmal, etwa zwei Jahre zuvor, wurde die Militärmaschine auf dem Weg zu einem Spiel über dem Kongo abgefangen. Die dortigen Sicherheitskräfte fürchteten einen Angriff. Damals war Malitoli an Bord und angesichts der aufsteigenden kongolesischen Luftwaffe sicher, die Buffalo werde nun abgeschossen. Eine eilig eingeleitete Landung verhinderte das, doch das Team wurde verhaftet und kam erst nach diplomatischen Bemühungen des damaligen Präsidenten Sambias, Kenneth Kaunda, wieder frei. Sie spielten und reisten für den Befreiungshelden. Das Team hatte zwei Spitznamen: die „Chipolopolos“ (Gewehrkugeln) – und „KK 11“, benannt nach den Initialen Kaundas.
Da war auch dieser Flug Ende des Jahres 1992 von Lusaka nach Madagaskar, der Insel vor der Südostküste Afrikas. Damals flog das Team in Bestbesetzung, auch Kalusha Bwalya war mit an Bord. Als die Maschine das Festland hinter sich ließ, machte der Pilot eine Durchsage: „Bitte die Rettungswesten anziehen. Sollten wir abstürzen, dauert es vier Stunden, bis die Maschine versinkt.“ Einige Spieler haben Fotos gemacht, wie sie mit den Westen einander gegenübersitzen. Kaum einer der verbliebenen Stars von damals kann heute auf diese Fotos schauen, ohne in Tränen auszubrechen. Der Unfall hätte jederzeit passieren können, das war allen klar, lange bevor er Realität wurde. Flugsicherheit ist in Afrika ein Problem, für eine Maschine wie diese gilt das besonders. Jene Spieler, die im Ausland unter Vertrag standen, hatten immer versucht, Flüge mit der Buffalo zu vermeiden.
Malitoli steigt am Freitag vor der Beerdigung nicht in das Flugzeug zur Trauerfeier nach Lusaka. Er hat es seiner verzweifelten Frau versprochen und wäre mental auch nicht in der Lage dazu – bis heute hält seine Flugangst an. Sie gedenken der aus dem Leben gerissenen Weggefährten in Tunis, zusammen mit der Familie eines sambischen Spielers, der ebenfalls zu Espérance gewechselt ist. Bwalya aber fliegt, wie könnte der Superstar der Chipolopolos in diesen Stunden in Eindhoven bleiben? Am Tag nach dem Unglück besucht er noch kurz das Vereinsgelände des PSV. „Keiner von euch zeigt ihm Zeitungsartikel, keiner spricht mit ihm darüber“, hat der Trainer die Spieler ermahnt. Im Flugzeug besteht der Pilot darauf, dass Bwalya in einer der vorderen Reihen sitzt. Dort fühle man sich sicherer. Der Stürmer versucht, sich nichts anmerken zu lassen, redet sich die statistische Unwahrscheinlichkeit eines weiteren Absturzes ein. Ein Mann der Stärke, auch jetzt, zumindest hält die Fassade – doch sorgenfrei wird er nie wieder ein Flugzeug betreten. „Wenn man jung ist, denkt man, dass nichts passiert“, geht es ihm durch den Kopf. Spätestens an diesem Tag, mit 29 Jahren, endet seine Jugend.
An einem Samstagmorgen kommt der Stürmer in Lusaka an. Erst am Nachmittag werden die 30 Särge derer erwartet, die vor der Küste von Gabun geborgen wurden. Doch als die Menschen Bwalya sehen, fangen sie an zu weinen. Afrikas Fußballer des Jahres 1988 ist das Gesicht des sambischen Sports, er steht für diese tragisch ausgelöschte Mannschaft wie kein Zweiter. Ein paar Stunden verbringt er im „Football House“, dem Sitz des sambischen Fußballverbandes. Dann wartet Bwalya im Independence Stadium von Lusaka auf seine getöteten Freunde. Hunderte empfangen sie vor dem Flughafen, Zehntausende auf dem Weg zum Stadion. Klagelaute begleiten die Fahrt, die Verzweiflung bahnt sich ihren Weg. Drei Stunden dauert der Transport der Särge zum Stadion, an normalen Tagen eine Strecke von 15 Minuten. Die Toten sind auf der Ladefläche mehrerer Pick-up-Trucks aufgebahrt. Nur eine einzige Straße führt zum Flughafen, plötzlich eine Einbahnstraße – gegen die Prozession, die in Richtung Stadion drängt, kommt an diesem Tag keiner an. Der Flug der getöteten Fußballprofis ist der letzte für diesen Tag, das gesamte öffentliche Leben steht still.