Der 20-jährige Jonathan Tah steht vor seinem Länderspiel-Debüt. Es ist das zwangsläufige Ergebnis seiner Entwicklung. Auch wenn er dafür vom Pech seines Idols profitiert hat.
„Projekt Profi“. So hieß eine von Sky produzierte Langzeit-Dokumentation, die vor vier Jahren begann, sich an die Fersen außergewöhnlicher Talente zu heften. Sinan Kurt, Raif Husic, Patrick Pflücke und Jonathan Tah hießen die Nachwuchshoffnungen, die sich bei ihrem Versuch, die Bundesliga zu erobern, begleiten ließen.
Und während Kurt nach einem gehypten Bayern-Intermezzo bei Hertha BSC einen Neuanfang wagt, Husic bei Werder Bremen auf seine Chance wartet und Pflücke in der zweiten Mannschaft von Mainz 05 Spielpraxis sammelt, hat es Tah inzwischen nicht nur in die Bundesliga, sondern nun sogar in die Nationalmannschaft geschafft. Überraschend ist das nicht. Denn blickt man zurück, war sein Weg vorgezeichnet. Achtspurig. Tah musste ihn „nur“ noch gehen. Und ging ihn mit Sieben-Meilen-Stiefeln.
Ein kompletter Spieler. Mit 16
Sein Talent wird früh erkannt. In seiner Kindheit läuft der gebürtige Hamburger für Altona 93 und Concordia Hamburg auf. Mit 13 wechselt er zum HSV. Mit 15 zieht er in dessen Jugendinternat. Schon damals ist der heute 1,94 Meter große Verteidiger eine einzige Erscheinung.
Doch Tah ist mehr als nur ein „Schlachtschiff“, als das ihn sein heutiger Mitspieler Christoph Kramer bezeichnet. Mehr als eine Abwehrkante, an der alles einfach nur abprallt. Er verfüge über eine auffällig gute Koordination und sei überhaupt ein „ziemlich kompletter Spieler“, so Bernd Schuster. Nach einem U16-Länderspiel Spanien gegen Deutschland. Vor vier Jahren.
Schon damals überzeugt Tah mit seinem guten Passspiel, seiner enormen Schnelligkeit und vor allem mit einer Ruhe, die selbst bei gestandenen Althauern noch beeindrucken würde. Die er nicht nur auf dem Platz beweis, sondern auch im Leben. Als derben Schnacker kann man ihn dementsprechend nicht gerade bezeichnen. Schon damals redet und handelt er, wie er spielt: geradlinig und effizient. Alles ist dem Ziel untergeordnet, es in die Bundesliga zu schaffen.
Der Traum erfüllt sich schnell. Mit 16 unterschreibt er seinen ersten Profi-Vertrag. Mit 17 Jahren, sechs Monaten und 13 Tagen gibt er sein Profi-Debüt. Als jüngster Spieler in der Bundesligageschichte des HSV.
Ein hässliches Schmierenstück
Zunächst ist es nur eine Minute, die er beim Auswärtsspiel im Berliner Olympiastadion bekommt. Doch bald schon macht ihn Trainer Thorsten Fink zum Stammspieler. Auch dessen Nachfolger Bert van Marwijk setzt auf den Innenverteidiger mit ivorischen Wurzeln. Gerät geradezu ins Schwärmen, wenn er über Tah redet: „Der Junge spielt, als wäre er schon fünf Jahre in der Bundesliga dabei.“ Und weiter: „Er hat einen guten Offensivpass, ist schnell, kopfballstark und auch taktisch gut geschult.“
Doch der HSV gerät in Abstiegsnöte, Bert van Marwijk ist bald wieder Geschichte und Nachfolger Mirko Slomka setzt auf erfahrenere Spieler. Dazu gesellt sich ein unschönes Rauschen im Hamburger Boulevard.
Tah hatte unlängst einen neuen Vertrag unterschrieben, dessen Details an die Öffentlichkeit geraten. Sein von Tahs Mutter getrennt und in Frankreich lebender Vater meldet sich zu Wort. Er hält den Vertrag für illegal und droht öffentlichkeitswirksam mit einer Klage, da der Kontrakt angeblich über drei Jahre geschlossen worden sei. Was bei Spielern unter 18 Jahren nicht erlaubt ist.
HSV-Sportdirektor Oliver Kreuzer hält dagegen, bezichtigt ihn, die Vertragsdetails überhaupt erst öffentlich gemacht zu haben. Ein hässliches Schmierenstück. Und Jonathan Tah ist mittendrin. Liest seinen Namen Tag für Tag in den Zeitungen.
Und nicht eine Schlagzeile ist sportlicher Natur. Ganz nebenbei macht er sein Abitur. Seine Leistungskurse: Sport, Englisch, Religion und Mathe. Nicht gerade das, was man von einem Jungprofi erwartet. Und das trotzdem er in der Regel höchstens an vier von fünf Tagen in der Schule ist. Der Fußball nimmt schließlich keine Rücksicht auf den Stundenplan.
Doch trotz all dieser Umstände spielt Tah fortan nicht nur in der U23 des HSV, in die er halb aus Not, halb aus Schutz komplimentiert wird. Er hilft auch noch bei seinen Jungs von der U19 aus. Denn auch die stecken mitten im Abstiegskampf. Da kann einer wie er nicht einfach tatenlos zusehen.
Und obgleich er allen Grund dazu hätte – Starallüren sind ihm fremd. Findet auch Kurosh Niakan, Masseur des Amateurteams: „Jonathan gehört zu den bodenständigen, der immer sehr respektvoll mit allen umgeht. Und der dementsprechend auch sehr beliebt ist. Der sich nichts drauf einbildet, wenn er Erfolge hat.“
Eine Einschätzung, mit der er nicht allein ist. So sagt auch U21-Trainer Horst Hrubesch: „Was mich am meisten freut, ist sein Charakter. Er ist selbstbewusst und ehrlich, auch zu sich selbst. Er weiß, was er tun muss.“ Nicht, dass Hrubesch nicht auch auch sportlich angetan wäre von Tah: „Er hat ein hervorragendes Auge, antizipiert stark und verfügt zudem über eine unheimlich gute Geschwindigkeit.“
Gegen sein eigenes Leitbild
Eigenschaften, die Tah nach einer auch für ihn persönlich turbulenten Saison in der Folge auf Leihbasis bei Fortuna Düsseldorf unter Beweis stellen kann. Er weiß auf Anhieb zu überzeugen, wird zu einem der besten Innenverteider der Zweitliga-Saison 2014/15.
Und auch wenn der HSV der Leihe nur unter Prämisse zustimmt, Tah anschließend keinesfalls zu verkaufen, veräußern sie ihn Anfang dieser Saison an Bayer Leverkusen. Weil der HSV die kolportierten zehn Millionen Ablöse braucht. Trotz des neuen HSV-Leitbilds, dass sich der Klub unlängst verschrieben hat. Von „Teamgeist, Siegeswille, Leistungsbereitschaft, Bescheidenheit und Kritikfähigkeit“ ist da die Rede. Es liest sich wie ein Steckbrief von Jonathan Tah.
Aber auch er will den Schritt unbedingt gehen. Schätzt das ruhige Umfeld in Leverkusen und das Gefühl, dass sie dort bedingungslos auf ihn setzen.
Ein schlauer Schritt, wie selbst HSV-Legende Horst Hrubesch findet: „Mit seinem Wechsel nach Leverkusen hat er sich zu hundert Prozent richtig entschieden.“ Dort kommt er sofort in die erste Elf. Bestreitet bis auf verletzungsbedingte zweieinhalb Bundesligaspiele jede einzelne Minute, die Bayers vollgestopfter Terminkalender zu bieten hat. Überzeugt in der Bundesliga gegen Aubameyang, Müller und Lewandowski. Und meldet in der Champions League selbst Neymar, Messi und Suarez ab. In einer Art und Weise, die auch seine Mitspieler beeindruckt. So wie Kevin Kampl: „Jonathan ist so abgeklärt, der ist so ein Riese, da denke ich niemals, dass er erst 19 ist. Ich weiß nur, dass ein Bär hinter mir ist, der mir den Rücken freihält.“
„In zwei Jahren ist er Weltklasse“
Ein Bär, von dem Horst Hrubesch sagt: „In zwei Jahren ist er Weltklasse.“ Und der muss es wissen. Er hat schließlich 2009 die U21-Europameisterschaft gewonnen. In der Innenverteidigung damals neben Mats Hummels: Jerome Boateng. Das große Vorbild für Tah, der über den Bayern-Profi in der SportBild sagte: „Für mich ist er der beste Innenverteidiger der Welt. Er verteidigt nicht nur defensiv überragend, sondern er ist auch gleichzeitig der erste Spielmacher des Teams. Ich versuche, viel von ihm abzugucken, und schaue mir, wenn möglich, extra noch die Bayern-Spiele an. Wie er in brenzligen Situationen reagiert, das versuche ich später im Training oder im Spiel umzusetzen.“
Einstweilen steht er nun dank seines Talents, seines Eifers und nicht zuletzt auch dank seiner Persönlichkeit erstmal vor seinem ersten Länderspieleinsatz. Als Boateng-Ersatz. Aber lange wird es sicher nicht mehr dauern, bis er neben seinem Idol für Deutschland aufläuft. Vielleicht drehen sie dann wieder einen Film über ihn. Wir wüssten auch schon den Titel: „Projekt Europameister“.