Wie soll man jemanden beschreiben, der in kein Schema passt? Wenn selbst Jörg Berger an dieser Aufgabe verzweifelt, darf man sich diese Frage durchaus stellen. Angesprochen auf die Schwächen seines ehemaligen Schützlings Jens Lehmann antwortet Berger: „Er ist so dermaßen ehrgeizig.“ Angesprochen auf die Stärken seines ehemaligen Schützlings Jens Lehmann überlegt Berger lange und sagt dann: „Er ist so unglaublich ehrgeizig.“ Schönen Dank auch.
Es ist das ewige Manko in Lehmanns Karriere, dass es einfach nicht möglich ist, ihn in eine Schublade zu pressen. Zumindest in keine vorgefertigte. Die für ihn passende wurde jedenfalls noch nicht geschreinert. Kahn war der „Titan“. Andreas Köpke der zuverlässige Abstiegskandidat mit den tollen Reflexen. René Adler und Manuel Neuer gehören zur „neuen Torwartgeneration“, gelten als modern, konzentriert, mannschaftsdienlich – und deshalb vielleicht auch ein wenig langweilig. Lehmann aber war in seiner Karriere alles und auch nichts. Wenn es überhaupt jemanden gibt, mit dem man den Fußball-Torwart vergleichen kann, dann es ist Uli Stein. Weil der aber aktuell sein Geld in Aserbaidschan verdient und keine Zeit für weitreichende Aufklärungsarbeiten hat, bleiben auch hier nur dicke fette Fragezeichen.
„Im Ruhrgebiet musst du kämpfen!“
Ehrgeiz. Disziplin. Siegeswillen. Und ja, natürlich auch: Druck. Das sind die Kernelemente von Lehmanns Karriere, die nach dem letzten Spieltag der laufenden Bundesliga-Saison beendet werden soll. Woher kommt diese Extraportion von allem, die Lehmann in Deutschland zu einem Rekordhalter in Sachen Platzverweisen und in England zu „Mad Jens“ werden ließ? Er selbst sagt: „Entspannung auf dem Rasen? Ich will gewinnen. Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen: Da muss du kämpfen. Mit Nettsein und Entspannung kommst du da nicht weiter.“
Die Unter-Tage-Vergangenheit aus dem Ruhrgebiet also, dort wo schuften und malochen zum guten Ton gehört. Selbst wenn die alten Zechen längst geschlossen sind. Aber auch das ist nicht wirklich eine Antwort auf all die Fragen nach Gründen für Provokationen, Schubsereien, Brillendiebstählen und Pinkelpausen. Lehmann kommt aus Essen-Heisingen, eine Gegend, die nicht unbedingt nach Kohlewolken und Männerschweiß stinkt. Hier regiert der gutbürgerliche Mittelstand. Auch wenn Lehmanns Großvater unter Tage schuftete – der Enkel wuchs in anderen Verhältnissen auf. Und sagt trotzdem so Sätze wie „Im Fußball ist es wie im Dschungel. Wenn der stärkste Löwe nicht jeden Tag kämpft, dann kommt irgendwann ein anderer und beißt ihn weg.“
Lehmann hat viel dafür getan in den 22 Jahren seiner Karriere stets der stärkste Löwe im Dschungel zu sein. „Jens hatte schon immer hervorragende Voraussetzungen für die Position des Torhüters“, sagt Jörg Berger, der Lehmann drei Jahre lang auf Schalke trainierte, „er hatte einen fantastischen Körper, war topfit, durchtrainiert und beweglich.“ Als er 2008 beim VfB Stuttgart anheuerte, stolze 38 Jahre alt, staunten selbst die jungen Kollegen über die körperliche Verfassung des Neuzugangs. „Als ich das erste Mal so trainiert habe, wie Jens es tat“, erinnert sich VfB-Torwart Alexander Stolz, „konnte ich mein T‑Shirt nach kurzer Zeit wechseln, das war durchgeschwitzt. Es war unglaublich intensiv.“
Der stärkste Löwe hat gebissen
Und der stärkste Löwe hat gebissen, nicht nur einmal. Seine Straßenbahnfahrt nach der Auswechslung durch Jörg Berger ist legendär. In der ersten Saison für Borussia Dortmund griff er Rostocks Timo Lange in die Haare – und wurde das erste Mal in seiner Karriere vom Platz geschmissen. Er legte sich mit Ulf Kirsten und Giovane Elber an. Beim FC Arsenal erntete er Hohn und Spott für ständige Rangeleien und schauspielerische Einlagen als Schwalbenkönig im eigenen Strafraum. Im womöglich größten Spiel seiner Karriere, dem Champions-League-Finale von 2006, flog er nach 18 Minuten vom Platz, weil er Barca-Stürmer Eto´o mit einer Notbremse gestoppt hatte. Und seine peinlichen Ausraster im Trikot des VfB Stuttgart verleiteten „Welt“-Redakteur Lars Wallrodt in seinem Kommentar „Der VfB Stuttgart muss Jens Lehmann entlassen“ zu lästern: „Das sind Aktionen auf Sandkasten-Niveau.“
Das alles ist so passiert und war teilweise wirklich lächerlich, überflüssig, peinlich und verrückt. Nur: Oliver Kahn hat sich in seiner Karriere nie anders verhalten und gilt heute trotzdem als ein Großmeister seines Fachs. Jens Lehmann schimpft man einen in die Jahre gekommenen Bekloppten.
„Bei ihm verblassen die positiven Erinnerungen“
Warum das so ist? Wieder eine offene Frage, aber immerhin findet sich hier ein interessanter Erklärungsversuch: „Normalerweise verblassen im Fußball die negativen Erinnerungen an einen Spieler“, grübelt Lars Ricken, ehemals Mitspieler bei Borussia Dortmund. „Bei Jens scheinen nur die positiven zu verblassen.“
Das war vor der Weltmeisterschaft 2006 und für einen kurzen Sommer lang schien sich das Klischee Jens Lehmann ins Gegenteil zu verklären. Die starken Leistungen in der Vorrunde, der Handshake mit Oliver Kahn vor dem Elfmeterschießen gegen Argentinien, die Zettel im Schienbeinschoner, die entscheidenden Paraden. Der Rote-Karten-Rekord zu Dortmunder Zeiten? „Mad Jens“? Alles Schnee von gestern!
Inzwischen sind Lehmanns Auftritte bei der WM nur noch vage Erinnerungen im damals glücksbesoffenen Fußball-Deutschland, reduziert auf ein Stück Papier, für das ein Energiekonzern eine Millionen Euro zahlte und dem „Haus der Geschichte“ vermachte. Selbst seine bewundernswerten Leistungen bei der EM 2008, noch nicht einmal zwei Jahre her, sind lange vergessen. Nur dunkel erinnern sich selbst ältere Semester in den Kurven an die diversen Auszeichnungen des gebürtiges Esseners, der „bester Torwart der Premier League“, „Europas Torhüter des Jahres“ und 2006 sogar zweitbester Torwart der Welt war. Jeweils drei Welt- und Europameisterschaften hat Lehmann mitgemacht. Bei den zwei Turnieren, die er als Stammkraft erleben durfte, wurde Deutschland Dritter und Zweiter. Keine allzu schlechte Bilanz.
Zeit für Image-Korrekturen gibt es nicht
Jetzt, im Frühjahr 2010, nach Pinkelpause, Brillenklau und Kerner-Beichte textet der „Stern“: „Lehmanns Image liegt endgültig am Boden. Und Zeit für Image-Korrekturen hat Lehmann nicht mehr.“ Tatsächlich, viel Zeit bleibt ihm nicht. Am 8. Mai 2010 soll die Karriere mit einem Punktspiel gegen Hoffenheim beendet werden. Das habe „der Familienrat“ entschieden. Wenn also nicht ein Wunder geschieht – und das wird es nicht – bleibt Jens Lehmann auf seinem Image sitzen.
Was seine Kritiker noch mehr ärgern wird: Es wird ihn nicht sonderlich jucken. „Er war immer extrem, in allem was er getan hat“, sagt Jörg Berger, Lehmanns Straßenbahn-Vergangenheit. „Eine Spur zu ehrgeizig, eine Spur zu radikal. Aber genau deshalb ist er zu einem der besten Torhüter der Welt geworden.“ Das muss man nicht verstehen, aber Jens Lehmann wird dieser Satz sicherlich ganz gut gefallen.