Wagner Arratia Concha ist einer der profiliertesten Sport-Journalisten Brasiliens. Kurz vor dem Turnierstart fragten wir ihn: Wie ist die Stimmung im Land des WM-Gastgebers?
Wagner Arratia Concha, wie ist die Stimmung in Ihrem Land so kurz vor der WM? Seit vergangenem Jahr gab es ja immer wieder heftige Proteste – werden diese die WM ueberschatten?
Viele meiner Landsleute finden nach wie vor, dass die WM nicht stattfinden sollte, solange wir solche gravierende Probleme in den Bereichen Bildung und dem Gesundheitswesen haben. Der Staat jedenfalls bereitet sich auf heftigste Proteste vor und hat bereits angekündigt, notfalls sogar die Nationalgarde gegen das eigene Volk einzusetzen – auf jeden Fall aber wird das Polizeiaufgebot massiv verstärkt. Vergangenes Jahr hat das Volk seinem Zorn durch Zerstörung Luft gemacht, zum Beispiel von Autohäusern in Belo Horizonte. Auch Banken wappnen sich bereits gegen die mögliche Wut des Volkes. Dennoch kann man aber sagen, dass sich langsam auch Vorfreude unter die Anspannung mischt. Kleine Läden hängen die Flagge auf, auch an Autos sieht man sie, die Straßen werden nach und nach bunter. Dennoch drücken all die bereits angesprochenen Probleme natürlich auf die Feierstimmung.
Was sind denn überhaupt die gravierendsten Probleme in Brasilien? Und was muss das Land tun, um die Situation nachhaltig zu verbessern?
Brasilien hat viele Probleme, aber das schlimmste ist zweifelsohne die Korruption. Sie verhindert eine nachhaltige Entwicklung des Landes zum Guten. So gibt es zum Beispiel einen jährlich festgelegten Etat für Bildung und Gesundheit, aber ein Großteil dieses Geldes versickert einfach unwiderbringlich an undichten Stellen. Auch die Infrastruktur des Landes bereitet große Sorgen, da wurde seit 20 Jahren seitens des Staates überhaupt nichts unternommen, so dass viele Straßen, die Eisenbahn und sogar Flughäfen in einem jämmerlichen Zustand sind. Ein anderes Problem sind die steigenden Staatsschulden, die sich trotz ebenfalls steigender Steuern anhäufen, seit dem 1. Januar diesen Jahres allein sind sie um mehr als 700 Millionen Reais gestiegen. So fehlt natürlich an allen Ecken das Geld, um die Situation zu verbessern, und auch deshalb gibt es so massive Proteste.
Dann gibt es ja da noch den Vorwurf der astronomischen Baukosten für die Stadien…
Vollkommen richtig, auch das ist absoluter Wahnsinn: Das Estádio Nacional in Brasília hat zum Beispiel 830 Millionen US-Dollar gekostet. Damit ist es das drittteuerste der Welt nach Wembley und dem Stade de Suisse in der Schweiz. Und genau wie in Südafrika ergibt sich hier das Problem, dass dieses Stadion nach der WM nahezu ungenutzt bleiben wird, ebenso wie die Arenen in Manaus, Cuiabá und Natal – die dort ansässigen Clubs spielen in der zweiten oder sogar nur in der dritten Liga, zu einem Spiel kommen gerade einmal ein paar hundert Menschen. Und das ist noch optimistisch formuliert.
Für die Selecao geht es bei dieser WM um alles. 200 Millionen Brasilianer erwarten nicht weniger als den sechsten Titel – wo hat das Team seine Stärken und Schwächen?
Ich denke ein Vorteil ist, das noch keiner der Jungs im Team jemals Weltmeister war, deshalb sind sie besonders heiß, zumal sie die Chance auf den Titel im eigenen Land haben. Mit Neymar, Oscar, Fred und Hulk haben wir eine aussergewöhnlich gute Offensive. Zudem ist Scolari ein starker Trainer, der weiß, wie man eine WM gewinnt – siehe 2002. Das Problem für mich könnte die Verteidigung werden: David Luiz hat sich in der Chelsea-Abwehr schon einige haarsträubende Fehler in der abgelaufenen Saison geleistet. Dani Alves stößt gerne mal nach vorne vor, läuft dann aber eher selten auch wieder zurück, wenn es darauf ankomnmt. Der Ewartungsdruck lastet aber vor allem auf Neymar. Doch ich denke, er wird ihm standhalten können.
Im Vorfeld der WM wurde von den deutschen Medien fast unbemerkt der Sohn von Fussball-Legende Pélé zu mehr als 30 Jahren Haft wegen wiederholter Gesetzesverstöße verurteilt – wird dieses Urteil das Bild von Brasilien Fussballgott negativ beeinflussen ?
Das denke ich nicht, Pélé wird wegen seiner großen Taten auf dem Platz für immer unvergessen bleiben. Für ihn als Vater ist das Urteil aber natürlich eine vernichtende Niederlage.
Die WM in Deutschland 2006 gilt vielen als die Beste aller Zeiten – was wird Brasilien unternehmen, um seine WM unvergleichlich und unvergesslich zu machen?
Der Staat hat ja bereits die beste aller Weltmeisterschaften versprochen, die Copa der Copas. Dennoch sind so kurz vor Beginn viele Stadien noch in verbesserungswürdigem Zustand, wie zum Beispiel in Sao Paulo, Natal und Curitiba. Auch der Streik der U‑Bahn-Angestellten in Sao Paulo hat so kurz vor Start noch einmal ein großes Fragezeichen hinterlassen, sogar die Polizei wurde als gewaltsame Streikbrecher eingesetzt. Insofern wird man die beiden Weltmeisterschaften wohl kaum vergleichen können, denn Deutschland ist sehr viel mehr entwickelt als Brasilien – in allen Belangen. Es gibt immer noch viele Probleme, aber wir arbeiten jetzt zumindest daran. Bleibt zu hoffen, dass die vielen Freunde aus aller Welt eine tolle Zeit haben warden und unser großes Land besser kennen lernen.