Oleg Dulub ist Trainer des ukrainischen Erstligisten FK Lwiw – und Belarusse. Hier erzählt er von den ersten Wochen im Krieg und warum er schon wieder an Training denkt.
Wie haben Sie die Zeit von Kriegsbeginn bis zur Ausreise verbracht?
Ich musste mich irgendwie ablenken. Ich habe natürlich die Nachrichten geschaut, hauptsächlich CNN und ukrainische Sender. Ich sah jetzt weniger russische und belarussische Programme. Insbesondere nach den Beiträgen über den Angriff auf das Verwaltungsgebäude in Charkiw, als die Belarussen sagten, die Ukrainer hätten sich selbst in die Luft gejagt. Ich bekomme ja aus verschiedenen Quellen Informationen, was tatsächlich in der Ukraine vor sich geht. Der Manager unseres Vereins war in Butscha, im Zentrum der Kämpfe, eingeschlossen unter der Erde. Er hat erzählt, was die sogenannten russischen „Befreier“ getan haben, und das erinnert mich an das Vorgehen der Faschisten im Zweiten Weltkrieg.
Was haben Sie erfahren?
Ende März gab es da den Jungen, dessen Vater vor seinen Augen erschossen wurde. Dem Jungen haben sie in den Kopf geschossen. Dieser Junge war der Freund der Tochter unseres Managers, er kennt das Kind und die Eltern, die ums Leben kamen. Irgendwann am zweiten oder dritten Tag der Bombenangriffe rief ich diesen Manager an, und er schaltete auf Video. Ich sah, wie da die Leute im Luftschutzkeller saßen. Ziemlich schwer, jemanden in dieser Situation etwas zu fragen. Andrej Makarewitsch hat das gut gesagt: Wenn jemand im Krieg war, erinnert er sich nicht gern daran. Auch einer unserer Scouts war in Butscha. Andere Scouts waren in Charkiw und in Saporishshja und erzählten, wie dort die Häuser mit direktem Beschuss bombardiert werden, mit den Mehrfachraketenwerfern, mit Granaten und so weiter. Bei der Menge an Informationen könnte man verrückt werden. So viel Negatives. Ich sah die Erschütterung der Menschen, ich weiß, dass der Sohn unseres Scouts seit den Bombenangriffen ständig Schluckauf vor Nervosität hat, und wie sehr sich die Haltung dieses Mannes gegenüber Russen und Belarussen verändert hat.
„Die Nation hat sich um Selensky zusammengeschlossen“
Haben Sie selbst Anfeindung erlebt?
Was Lwiw angeht, da gab es nichts. Weil man mich hier sehr gemocht hat. Der einzige Nachteil war, dass einige Tage nach Kriegsbeginn meine Geldkarte gesperrt wurde, weil die Konten von Russen und Belarussen eingefroren werden sollten. Das war für mich okay, schließlich ist das Land im Krieg, und da geht es zur Sache.
Hat diese Zeit ihre Wahrnehmung von den Ukrainern verändert?
Nur zum Positiven. Ich habe eine geeinte Nation gesehen. Für sie ist dieser Krieg so wie der Große Vaterländische Krieg für die Sowjetunion: Die Menschen sind durch das gemeinsame Ziel vereint, diesen Krieg zu gewinnen. Mich hat auch erstaunt, wie sich die ukrainischen Sportler verhalten haben. Sie standen mit wenigen Ausnahmen zusammen. Andrij Bohdanow, ein Fußballer von Kolos, legte den Eid ab, nahm die Maschinenpistole und zog in den Krieg – und es gibt noch mehr solcher Beispiele. Vor dem Krieg schienen die Ukrainer nicht sonderlich geschlossen hinter Präsident Selensky zu stehen. Aber wie er sich dann nach Kriegsbeginn verhalten hat! Die Lage ist kritisch, man müsste eigentlich weg, und er sagt: Nein, ich werde mit der Waffe in der Hand kämpfen. Und das hat sich auf die Bevölkerung übertragen. Die Nation hat sich um Selensky zusammengeschlossen.
Im Jahre 1992 zieht die Miliz des serbischen Unterweltkönigs Arkan eine blutige Spur durch Kroatien und Bosnien. Unter den Freischärlern sind zahlreiche Hooligans von Roter Stern Belgrad. Die Geschichte einer Verwandlung.
Hat sich Ihre Haltung zu Russland jetzt geändert?
Ja, meine Beziehung zu Russland hat sich sehr verschlechtert. Wie sich die sogenannten Befreier verhalten (denkt nach.) – so kann man im 21. Jahrhundert nicht vorgehen. Sie vernichten ganze Städte zusammen mit der Zivilbevölkerung, einfach nur deshalb, weil diese Städte russischsprachig sind, aber die Menschen sie dort nicht mit Salz und Brot empfangen. Man muss verstehen, dass die Ukraine ein freies Land ist und die Ukrainer nur sehr schwer zu versklaven sind. Eher sterben sie, aber sie werden niemals mehr Sklaven sein.
Was denken Sie über die Sanktionen gegen russische und belarussische Sportler?
Ich verstehe überhaupt nicht, warum diese Sanktionen für Empörung sorgen. Diejenigen, die damit nicht einverstanden sind, sagen: Nun, der Sport steht jenseits der Politik. Wer hat sich bloß diesen Satz ausgedacht? Jeder Sport, und sei es im Kleinsten, spiegelt trotzdem das Geschehen in der Gesellschaft wider. Erinnern wir uns nur an die Olympischen Spiele 1936 in Deutschland. Wozu haben die Deutschen sie gebraucht? Um die Überlegenheit der arischen Rasse zu zeigen. Die Olympischen Spiele in Moskau und Sotschi haben dazu gedient, mit Hilfe des Sports die Überlegenheit der Sowjetunion bzw. Russlands zu zeigen. Meiner Meinung nach sollte ein Land, das im 21. Jahrhundert im Herzen Europas einen Krieg entfacht hat, bestraft werden. Ich sage nicht, dass die Sportler am Krieg schuld sind: Die großen Firmen verlassen das Land, den Banken wird der Zugang zu SWIFT gesperrt und so weiter. Der Sport steht hier an vorletzter Stelle. Ich denke nicht, dass sich der Sport jenseits der Politik befindet. Jeder Sportler ist auch Bürger seines Landes. Und wir reden hier nicht davon, wen du wählst, ob die Roten, die Gelben, die Weißen oder die Grünen, sondern darum, ob du Mord gutheißt oder nicht.
„Die schlimmsten Menschen auf der Welt, das sind wirklich die schweigenden Duckmäuser“
Belarussische Sportler haben einen regimefreundlichen Brief unterzeichnet, russische Sportler sind zu regimefreundlichen Veranstaltungen gegangen. Haben sie alle die Sanktionen verdient?
Für mich ist die Antwort klar: Sie haben es verdient. Natürlich können sie sagen, sie hätten sich nicht für sowas interessiert und hätten einfach nur trainiert. Wissen Sie, es gab da den tschechischen Schriftsteller Julius Fučik, den haben die Nazis 1944 hingerichtet. Als er im Gefängnis war, hat er das Buch Reportage unter dem Galgen geschrieben, in dem er beschreibt, was mit ihm geschah. Da gibt es einen guten Satz, den kenne ich auswendig: Fürchtet euch nicht vor Feinden, die können höchstens töten, fürchtet euch nicht vor Freunden, die können höchstens Verrat üben, fürchtet euch vor gleichgültigen Leuten, denn durch ihre schweigende Zustimmung geschehen die fürchterlichsten Verbrechen der Welt. Die schlimmsten Menschen auf der Welt, das sind wirklich die schweigenden Duckmäuser. Ich respektiere jede Position, verstehe das aber so, dass jeder zumindest eine haben sollte. Jeder Mensch ist einmalig, aber vor Gott sind alle gleich. Es ist ja nicht so, dass jemand als Präsident geboren wird. Nein, du wirst zunächst als Mensch geboren, erst dann erringst du ein Amt.
Ist der Sport in Belarus noch am Leben?
Amateursport, ja, der lebt. Der Profisport aber, die Wettbewerbe mit den besten Athleten der Welt, diese Möglichkeit wird es für belarussische und russische Sportler nicht mehr geben. Daher wird der Sport in diesen Ländern auf das Niveau von Freizeitsport absinken, wenn er nur wegen der Gesundheit betrieben wird. Erklären Sie mir doch bitte, wer den belarussischen Sport noch braucht, von dem sich nach den Protesten im Jahr 2020 die Fans abgewandt haben und dem die internationale Bühne versperrt ist?
Die Ideologen.
Die Ideologen müssen demonstrieren, dass die belarussische Nation den anderen Nationen überlegen ist. Aber wie wollen sie das zeigen, wenn sie sich nicht mit den besten Sportlern messen können? Sie spielen nicht gegen Bayern München oder Liverpool, sondern gegen Mannschaften mit dem Niveau von Smolewitschi oder Mikaschewitschi. Das ist das Niveau von Betriebssportmeisterschaften. Was hat das mit Ideologie zu tun? Die verliert da den Sinn. Es ist ja so: Es wird gesagt, hebt die Sperre auf, und wir zeigen euch, dass wir gute Sportler haben. Die Sperre wird aber nicht aufgehoben und die Belarussen werden weiter im eigenen Saft schmoren. Es gibt einen guten Spruch: Wenn du ein Löwe sein willst, musst du auch mit Löwen kämpfen – nicht mit Katzen oder Mäusen, sondern eben mit Löwen! Die Löwen, das sind hier die besten Sportler der Welt, und wenn du gegen die spielst, dann wirst du besser.
Glauben Sie an die Zukunft von Belarus?
Ja. Die Genossen, die da jetzt am Ruder sind, die kommen und gehen. Ich hoffe, dass das Land bald frei sein wird.
Machen Sie jetzt irgendwelche Pläne für Ihr Leben?
Nun, ich versuche herauszufinden, wie ich die Mannschaft trainieren soll, wenn die ukrainische Meisterschaft weitergeht. Ich denke, wir werden nur ein paar Wochen zum Trainieren haben, um zumindest teilweise Kondition zu kriegen.
Gibt es eine Chance, dass die Meisterschaft schon bald weitergeht?
Das hoffe ich sehr. Man muss wissen, dass Fußball in jedem Land mehr ist als nur eine Sportart. In Spanien wurde unter Franco versucht, den Fußball wiederzubeleben, um zu zeigen, dass im Land alles wieder normal sei. Ich denke, das erste, was die Ukraine machen wird, wenn sich alles wenigstens ein bisschen wieder eingerenkt hat, ist eine Fortsetzung der nationalen Meisterschaft. Als der Krieg begann, habe ich nachgeschaut, wann die sowjetische Meisterschaft nach dem Großen Vaterländischen Krieg weiterging. Und: Das erste Spiel fand am 13. Mai 1945 statt, wenige Tage nach Kriegsende. Da haben wir‘s.