Oleg Dulub ist Trainer des ukrainischen Erstligisten FK Lwiw – und Belarusse. Hier erzählt er von den ersten Wochen im Krieg und warum er schon wieder an Training denkt.
Dieses Interview wurde mit dem belarussischen Medium Nasha Niva geführt und ist in deutscher Übersetzung erstmals bei Dekoder erschienen. Wir dürfen das Gespräch mit Oleg Dulub, der über die russische Invasion und seine Flucht aus der Ukraine spricht, mit freundlicher Genehmigung ebenfalls veröffentlichen.
Oleg Dulub, ist Ihnen die Entscheidung schwer gefallen, das Land zu verlassen?
Die ist spontan gefallen, ich hatte nicht vor, die Ukraine zu verlassen. Ich kam wie gewöhnlich zum Platz, und dort wurde mir und Wassili Chomutowski (dem belarussischen Torwarttrainer des FK Lwiw., d. Red.) gesagt, dass wir schleunigst weg müssten, weil bald belarussische Truppen in die Ukraine einmarschieren. Wenn das passiert, würde uns die EU vielleicht nicht mehr reinlassen. Es gab gute Gründe, diesem Tipp zu vertrauen. Außerdem sahen wir ja, was rundum vor sich ging. Unsere ukrainischen Spieler mussten sich zum Beispiel bei bei der Einsatzleitung der Territorialverteidigung melden und sich dort eintragen. Wir haben gefragt, was wir Ausländer denn tun sollen. Die Leute vom Verein telefonierten herum und sagten uns dann: Fahrt schnell weg! Auch wenn ich es immer noch bedaure, dass ich die Ukraine verlassen habe, weil die Mannschaft dort geblieben ist und ich dort immer gut behandelt wurde.
Wie sind Sie ausgereist?
Der Club hat uns geholfen. Wir fuhren mit einem Auto mit belarussischen Kennzeichen. Vor uns fuhr ein Fahrzeug vom Verein zur Begleitung, und an allen Kontrollpunkten ging es durch den grünen Korridor.
Was waren für Sie die stärksten Eindrücke?
Vor allem die Menge an Menschen. Wir hatten im Voraus die Warteschlangen an den Grenzübergängen gecheckt; bis zwei Uhr nachmittags war niemand da, keine Autos, keine Geflüchteten. Als wir aber ankamen, da hatte schon der Flüchtlingsstrom eingesetzt. Beeindruckt im positiven Sinne hat mich, wie der Grenzübertritt organisiert war, wie gut die ukrainischen und polnischen Grenzbeamten gearbeitet haben. Auf der anderen Seite der Grenze, in Polen, wollten viele Männer in die Ukraine fahren, um sie zu verteidigen. Es ist nur schwer zu vermitteln, was wir im Vorfeld der Grenze gesehen haben. Eine Schlange von fünf Kilometern, aus Frauen und Kindern, die von Männern begleitet waren. Sie haben die Frauen und Kinder zur Grenze gebracht und sind dann umgekehrt, um ihr Land zu verteidigen. In Warschau erlebte ich dann eine besondere Situation. Ich erreichte mein Hotel am Flughafen, „all inclusive“. Hinter mir saß ein älterer Mann, ihm war anzusehen, dass er die Kleider anhat, in denen er von zu Hause losgegangen war. Dieser Mann war sehr verwirrt, als ob er zum ersten Mal in einem solchen Hotel ist und nicht weiß, was er tun soll. Vom Aussehen her schien er Bauer zu sein. Der Hotelmanager ging zu ihm und bot ihm Kaffee oder Tee an, der Mann verstand ihn nicht. Eine junge Frau wurde gerufen, die Russisch spricht und ihm nochmal Kaffee oder Tee anbietet. Der Mann schaute sie an und saget: „Ich habe Hunger.“ Das heißt, da wurde jemand einfach aus seiner normalen Umgebung gerissen und über die Grenze gebracht. Das hat mich sehr ergriffen. Ich kann verstehen, was für ein Stress das für ihn ist.
War die Ukraine für Sie ein Zuhause?
Ich würde sie als mein zweites Zuhause bezeichnen, besonders jetzt, wo ich zum zweiten Mal gekommen bin, um in der höchsten ukrainischen Liga zu arbeiten. Die Haltung gegenüber uns (als Trainerteam, Anm. d. Red.) ist jetzt eine ganz andere, denn die Leute haben gesehen, wie wir 2016/17 beim ersten Mal in der Ukraine gearbeitet haben. Sie haben für uns die besten Bedingungen geschaffen, im Alltag und fürs Training. Es versteht sich, dass es bei der Arbeit unterschiedliche Momente gibt. Aber so ist Fußball, alles gut. Ich will noch etwas zur Haltung der Menschen in der Stadt sagen, besonders bei unserer zweiten Ankunft. Ich war angenehm überrascht, dass mich die Leute in Lwiw erkannten; sie kamen auf mich zu, grüßten mich, wünschten viel Erfolg. Und das, obwohl die meisten in der Stadt Fans von Karpaty sind (der Verein hatte sich 2021 aufgelöst, Anm. d. Red.). Vielleicht kennen mich die Leute gerade deshalb, weil ich Karpaty 2016 von ganz unten hochgeholt habe.
„Was, du schläfst? Bei euch ist doch Krieg!“
Wie steht es jetzt um Lwiw?
Die ausländischen Spieler haben das Land verlassen, aber die Ukrainer sind alle in Lwiw. Sie sind verpflichtet, in der Territorialverteidigung zu arbeiten, beim Abladen der humanitären Hilfsgüter mitzuhelfen. Anschließend trainieren alle gut organisiert, gehen in die Trainingshalle und spielen Fußball.
Wie haben Sie den 24. Februar erlebt?
Ich erinnere mich an den Abend davor. Wir waren mit dem Trainerteam im Hotel etwas essen und redeten über die Lage und den drohenden russischen Einmarsch. Wir waren uns einig, dass in einer solchen Situation kein normaler Mensch einen Krieg anfängt, weil der nicht zu gewinnen ist. Wir gingen ganz ruhig schlafen, und so gegen halb sechs bekam ich einen Anruf auf Viber. Die Jungs aus Belarus meldeten sich und fragten: „Was, du schläfst? Bei euch ist doch Krieg!“ Ich ging ins Internet, schaute mir die Rede eines gewissen Genossen über den Beginn der sogenannten Spezialoperation an. Ich dachte sofort an die Zeilen aus dem Lied: „[Am 22. Juni] // Genau um vier Uhr // Wurde Kyjiw bombardiert // Uns wurde gesagt, // Dass jetzt Krieg ist“. Die Rede ging ja um fünf Uhr Moskauer Zeit raus, und in Kyjiw war es da vier. Ich sah sofort viele Parallelen zu jenem Krieg, zu 1941. Um 12 Uhr hatten wir eine Versammlung und danach ein Gespräch mit der Vereinsleitung. Rund drei Stunden saßen wir noch auf der Anlage rum, dann fuhren wir ins Hotel zurück.
Wie sehr spürt man in Lwiw, dass jetzt Krieg ist?
Lwiw ist im Hinterland, und alle Kampfhandlungen werden vom Hinterland aus unterstützt. Und was ich in dieser Stadt gesehen habe, hat mich verblüfft, zutiefst berührt. Zum einen sah ich lange Schlangen vor den Musterungsbehörden. Da standen Männer, die versuchten sich zur Armee zu melden, aber nicht genommen wurden. Es hieß, alle Einheiten seien schon komplett, es gebe aber nicht genug Waffen. Ein paar Tage später begann vor den Musterungsbehörden die Sammlung von Sachen für die Geflüchteten. Ich erinnere mich an Berge von Essen und Kleidung. Und weitere fünf Tage später gab es in Lwiw die ersten Kontrollposten. Das kam sehr unerwartet: Du kommst abends von der Anlage und es ist nichts zu sehen. Morgens willst du dann zur Anlage und stehst plötzlich vor einem Kontrollposten. Gleichzeitig waren die Schlangen vor dem Militärkommissariat nicht verschwunden. Da standen sehr viele Männer, die nach Kyjiw wollten, um die Stadt zu verteidigen. Rund eine Woche nach Kriegsbeginn erklärte der Bürgermeister von Lwiw, dass sich alle Männer zwischen 18 und 60 für eine Beteiligung an der Territorialverteidigung registrieren lassen müssen, auch die Spieler des Vereins.