Nun bist du also zum „Spieler der Saison“ gewählt worden, obwohl doch niemand wirklich weiß, wie er dich rufen soll. Grafit? Grafité? Grafitsch? Grafitsche? Ich muss zugeben, ich kenne nicht mal deinen bürgerlichen Namen, vermutlich ist er auch noch komplizierter auszusprechen und wie bei allen brasilianischen Fußballspielern zusammengesetzt aus mehreren klangvollen Koseformen, die von einem wahren Künstler künden.
Mir hast du dich vorgestellt als „Grafa“. Und dabei bleibe ich jetzt auch, das passt zu dir – und ist beileibe kein Zungenbrecher. „Grafa“ beschreibt für mich dein ganzes Spiel: die Explosivität, wenn du dir den Ball an deinen Gegenspielern vorbei legst, die Wucht, wenn du sogar noch im Fünfmeterraum den Zweikampf suchst, die Konzentration, wenn du dir die richtige Ecke ausguckst vor einem Elfmeter, und die Vielseitigkeit, wenn du ein atemberaubendes Solo mit der Hacke abschließt. Allein für dieses eine Tor gegen die Bayern bist du für mich der Spieler der Saison. Doch auch die anderen Treffer, jeder einzelne für sich, waren unverzichtbar auf unserem Weg zur Deutschen Meisterschaft. Nun reihst du dich ein in die ewige Galerie der Bundesliga-Torschützenkönige: Gerd Müller, Karl-Heinz Rummenigge, Anthony Yeboah, Giovane Elber – Grafite!
Manchmal habe ich schon gezweifelt, ob du wirklich Brasilianer bist. Natürlich, du siehst aus wie einer, hast einen beachtlichen Hüftschwung und trägst bis in den deutschen Frühling Handschuhe und Mütze. Doch Disziplin, Fleiß und dieser unbändige Ehrgeiz, so dachte ich bisher, seien nicht unbedingt typisch für Südamerikaner. Ich konnte so pünktlich zum Training kommen, wie es nur ging, du warst schon da, umgezogen auf dem Platz, und hast Extraschichten geschoben. Deine Zielstrebigkeit beeindruckte mich ein ums andere Mal. In jedem Trainingsspiel hast du gekämpft, gegrätscht und gebissen, mir die Bälle um die Ohren geschossen.
Und nach jedem Tor der Blick nach oben. Zwei Sekunden Ruhe. Du hattest kein leichtes Jahr, Grafa, dein Vater verstarb im Oktober. Ich bin mir sicher, er hat jedes deiner Tore gesehen. Wenn du nach oben geschaut hast, schaute er nach unten. Zwei Sekunden für die Ewigkeit. Nun habe ich doch noch einmal nachgeschaut, wie er dich wohl nannte: Edinaldo Batista Líbano – ein Künstlername, der wahrlich nicht zu viel verspricht.
Morgen: Der Torwart der Saison