Heute vor 40 Jahren begann die WM in Spanien und damit der Sommer Paolo Rossis. Sein Name wird auf ewig mit dem Turnier verbunden bleiben, an dem er um ein Haar nicht hätte teilnehmen dürfen.
Selten hat jemand den Instinkt eines geborenen Torjägers anschaulicher und beiläufiger beschrieben als Paolo Rossi. „Ich startete, bevor Gentile überhaupt geflankt hatte“, sagte er über die Entstehung seines Führungstreffers im WM-Finale 1982. Das ist die in einen griffigen Satz gegossene Essenz des Knipser-Gens: zu wissen, wo der Ball in ein paar Sekunden sein wird.
Rossis Tor, obwohl bereits in der 57. Minute erzielt, war schon fast so etwas wie die Vorentscheidung im Spiel zwischen Italien und der DFB-Elf. Zwölf Minuten danach traf Marco Tardelli, weitere zwölf Minuten später Alessandro Altobelli, doch da waren die Deutschen längst erledigt. Sie hatten ihr Endspiel bereits drei Tage zuvor im epischen Halbfinale gegen Frankreich gehabt.
Rossi und die Seinen aber feierten Italiens dritten Weltmeistertitel, der von allen bis dahin der unwahrscheinlichste war. Bis auf Platz 19 der FIFA-Weltrangliste waren die Italiener 1981 gefallen und hatten im Vorfeld des WM-Turniers in Spanien selbst gegen die, pardon, DDR verloren. Kaum jemand traute ihnen etwas zu in der Heimat, zumal Paolo Rossi, ihr Hoffnungsträger im Sturm, seit zwei Jahren kaum Fußball gespielt hatte, weil er wegen der Beteiligung an einer Wettmanipulation eine lange Sperre abgesessen hatte. Dass er überhaupt dabei sein konnte, war der Reduzierung der Sanktion von drei auf zwei Jahren zu verdanken – und Nationaltrainer Enzo Bearzot, der in unverbrüchlicher Treue an dem in der Öffentlichkeit umstrittenen Mittelstürmer festhielt.
Schon zuvor war Paolo Rossis Karriere nicht ohne Hindernisse verlaufen. Bei Juventus konnte sich der schmächtige Junge aus der Toskana zunächst nicht durchsetzen, wurde nach Como verliehen und wechselte zum Zweitligisten Vicenza, schoss den Provinzklub in die Serie A und im Anschluss zum Vizemeistertitel, stieg sofort danach wieder ab in die Serie B und ging zu Perugia, einem weiteren Emporkömmling der italienischen Liga.
Und dann kam der 30. Dezember 1979. Italiens Fußball steckte zu diesem Zeitpunkt bis zum Hals in einem Sumpf aus Spielmanipulationen und Wettbetrug, das wusste nur zu diesem Zeitpunkt noch niemand. So ganz konnte nie aufgeklärt werden, was vor dem Spiel zwischen US Avellino und Perugia geschah, Fakt ist, dass Paolo Rossi zwei Tore schoss und die Partie trotzdem unentschieden ausging. Genau so soll es im Vorfeld verabredet worden sein. Rossi hat stets seine Unschuld beteuert und als Argument die Relation der Summen angeführt: Wieso könnte jemand derart bescheuert sein, für ein paar Peanuts seine Karriere an die Wand zu fahren, wenn er doch ohnehin schon Hunderttausende verdient? Es hat ihm alles nichts genützt.
Die italienischen Tifosi teilen sich seinerzeit in zwei Lager: pro Rossi und contra Rossi. Folglich sind längst nicht alle begeistert, als der gerade erst wieder spielberechtigte Stürmer für die Weltmeisterschaft in Spanien berufen wird. Und das Grummeln wird lauter, als Italien in der Vorrunde ohne Sieg und Rossi ohne Treffer bleibt. Danach aber explodiert erst das Team und dann sein Mittelstürmer. Dem 2:1 gegen Argentinien mit dem jungen Maradona folgt ein 3:2 gegen den Turnierfavoriten Brasilien – und diesmal schießt Paolo Rossi alle drei Tore.
Es ist also durchaus berechtigt, wenn Rossis Autobiografie auf Deutsch übersetzt „Ich habe Brasilien zum Weinen gebracht“ heißt. Noch Jahre später flog er in Sao Paulo aus einem Taxi, als ihn der Fahrer erkannte. Für Rossi jedoch waren die drei Tore eine Erlösung vom ganzen Elend der davor liegenden zwei Jahre. Dementsprechend gelöst, gelangen ihm zwei weitere Tore im Halbfinale gegen Polen und der Führungstreffer im Endspiel. Danach war Paolo Rossi Weltmeister und Torschützenkönig, später wurde er auch noch zu Europas „Fußballer des Jahres“ gekürt.
Wahrscheinlich passt es zu dieser unstet verlaufenen Karriere, dass ihn das Glück alsbald wieder verließ. In den Jahren nach dem großen Triumph wurde Rossi – nun wieder bei Juventus unter Vertrag – von allerlei Verletzungen und Ladehemmung geplagt, und weil er andererseits jemand war, der keine Scheu hatte, seine Popularität zu barer Münze zu machen, fiel er bei der italienischen Fußballöffentlichkeit wieder in Ungnade. So wurde aus dem WM-Helden ein „Buffone“ (Hampelmann, nicht zu verwechseln mit dem fast gleichnamigen Torhüter), der 1987 mit nur 30 Jahren seine aktive Laufbahn beendete.
Bis auf kurze Gastspiele als TV-Experte hat sich Paolo Rossi danach ins Privatleben zurückgezogen. Neben dem Betrieb einer Fußballschule und eines Ferienhofs in der Toskana ging er sehr italienischen Tätigkeiten nach: Er kelterte Wein und produzierte Olivenöl. Was von ihm blieb, war die Erinnerung an einen ganz besonderen Mittelstürmer. Kein handelsüblicher Brecher, sondern ein schlauer Spieler, der in seinen besten Momenten intuitiv wusste, was zu tun ist – auch wenn er letztlich nur einen Sommer tanzte oder zumindest nie mehr so spektakulär wie 1982 unter der sengenden Sonne Spaniens.
Am 9. Dezember 2020 ist Paolo Rossi gestorben. Nur zwei Wochen nach dem Tod von Diego Maradona – dem alles überstrahlenden Helden der WM 1986 – hat die Fußballwelt auch den prägenden Spieler der Weltmeisterschaft 1982 verloren.
Der Text erschien erstmals im Dezember 2020, zum Tod von Paolo Rossi.