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Als Arrigo Sacchi Ende der Acht­ziger dem AC Mai­land sein Pres­sing­system ver­ord­nete – und damit schließ­lich den gesamten Fuß­ball revo­lu­tio­nierte –, stand er vor einem Pro­blem: Wie sollte er seinen Stars wie Ruud Gullit oder Marco van Basten deut­lich machen, dass jeder mit­ar­beiten musste, damit die Mann­schaft Erfolg hatte? Wieder und wieder impfte Sacchi den großen Indi­vi­dua­listen ein: Fünf Spieler, die ein System haben, schlagen zehn Spieler, die keines haben.“ Doch der Trainer merkte, dass Rest­zweifel blieben. Wie er mal lapidar sagte: Da musste ich es ihnen halt beweisen.“

Sacchi ord­nete ein Trai­nings­spiel an, bei dem die eine Mann­schaft nur aus dem Tor­wart und der Vie­rer­kette davor bestand, wäh­rend das andere Team in der Tat dop­pelt so viele Spieler hatte. Und wir reden hier nicht von irgend­wel­chen Spie­lern. Neben Gullit und van Basten standen in dieser zweiten Mann­schaft Könner wie Frank Rij­kaard, Carlo Ance­lotti oder Roberto Dona­doni. Ich habe das immer und immer wieder gemacht“, erin­nerte sich Sacchi. Und die zehn haben nie ein Tor geschossen. Nicht ein ein­ziges Mal.“ Es wird kein Zufall sein, dass Rij­kaard, Ance­lotti und Dona­doni später selbst Trainer wurden. Sac­chis Demons­tra­tion dürfte einen tiefen Ein­druck hin­ter­lassen haben.

Ob Milans Offen­siv­künstler jemals begriffen haben, dass Sacchi sie bei diesen Trai­nings­spielen rein­ge­legt hat? Einer der vier Ver­tei­diger hieß näm­lich Franco Baresi. Soll heißen: Es war unfair, dass die andere Mann­schaft nur dop­pelt so viele Spieler hatte.

One Club Men

Die große Milan-Mann­schaft, die Sacchi auf­baute und die Fabio Capello zur zweiten Blüte brachte, ist zwar für ihren Angriffs­fuß­ball bekannt, aber eigent­lich war es die Defen­sive um den Libero Baresi, auf die alles ankam. Als die Rot-Schwarzen unter Sacchi 1988 Meister wurden, zum ersten Mal seit neun Jahren wieder, da kas­sierten sie nur 14 Treffer in 30 Spielen. Und 1994, unter Capello, waren es 15 Gegen­tore in 34 Par­tien. Diese Truppe wusste, wie man ver­tei­digt.

Natür­lich war Baresi nicht allein dafür ver­ant­wort­lich. Es ist schon einer der ver­rück­testen Zufälle der Fuß­ball­ge­schichte, unwahr­schein­li­cher als ein Lot­to­ge­winn, dass Baresi zwölf Jahre lang (!) neben dem um einiges jün­geren Paolo Mal­dini ver­tei­digte. Man muss sich das mal vor­stellen: Zwei One Club Men, die zusammen auf 1.621 Ein­sätze für den­selben Verein kommen und deren Rücken­num­mern die ein­zigen beiden sind, die dieser Klub nicht mehr ver­gibt, spielten mehr oder weniger zur selben Zeit und meis­tens nur wenige Meter von­ein­ander ent­fernt.

Doch da enden auch schon die Gemein­sam­keiten. Mal­dini wurde prak­tisch in den AC Mai­land hin­ein­ge­boren, wäh­rend Baresi eigent­lich zu Inter sollte. Sein Jugend­trainer Guido Settem­brino besorgte näm­lich ihm und seinem älteren Bruder Giu­seppe ein Pro­be­trai­ning bei den Schwarz-Blauen. Beppo wurde genommen – und spielte später viele Derbys gegen seinen Bruder –, doch Franco fiel durch.

Inters his­to­ri­sche Fehl­ein­schät­zung war nicht so dumm, wie sie aus der Rück­schau wirkt. Baresi sah halt aus wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Man musste schon sehr viel Fan­tasie haben, um in ihm den besten Libero seiner Gene­ra­tion zu sehen. Selbst viele, viele Jahre später, als die Tifosi ihn schon ver­göt­terten und viele Profis ihn als ihr Vor­bild angaben, dürfte sich so man­cher Fan auf den Rängen am Kopf gekratzt haben. Okay, der Typ da mit den schwarzen Haaren, der aus­sieht wie ein Film­star, der ist cool. Aber dieser kleine, schmäch­tige Mann neben ihm, dem das Hemd um die schmale Brust flat­tert, der soll auch ein Star sein? Warum?

Eine geheim­nis­volle Kunst

Ja, warum? In einem Satz: Baresi beherrschte eine geheim­nis­volle Kunst, die auf dem Fuß­ball­platz so selten ist wie im Leben. Er tat immer das Rich­tige. Baresi passte, wenn er passen musste, und drib­belte, wenn er drib­beln musste. Er ließ sich zurück­fallen, wenn es nötig war, und ging nach vorne, wenn es sein musste. Er schoss, wenn ein Schuss die Lösung war, und drehte ab, wenn nur ein neuer Aufbau half. Und er tat all dies meis­tens still. Er schrie nicht, er ges­ti­ku­lierte nicht, er spielte ein­fach Fuß­ball. Zuerst als alt­mo­di­scher Libero hinter der Abwehr, dann – als Sacchi für sein System eine Abseits­falle brauchte – auf einer Höhe mit den drei anderen.

So seltsam es klingt, Baresis größter Tag könnte der gewesen sein, an dem er seine bit­terste Nie­der­lage erlitt. Er hatte gerade zum fünften Mal die Meis­ter­schaft gewonnen und zum dritten Mal den Wett­be­werb, der nun Cham­pions League hieß, als er mit Ita­lien zur WM 1994 in die USA reiste. Er war 34 Jahre alt, aber natür­lich spielte er, denn Sacchi war Natio­nal­trainer und ver­traute ihm voll und ganz. Im zweiten Grup­pen­spiel ver­drehte Baresi sich bei einer Ret­tungstat das rechte Knie. In der Nacht konnte er vor Schmerzen nicht schlafen und ließ sich ins Kran­ken­haus bringen. Um fünf Uhr mor­gens wurden ihm Teile des Meniskus ent­fernt. Ich werde nicht nach Hause fliegen“, sagte er. Ich will bei der Mann­schaft bleiben.“

Mal­dini über­nahm die Kapi­täns­binde von Baresi und führte Ita­lien bis ins Finale gegen Bra­si­lien. Doch vor diesem Spiel plagten Sacchi viele Sorgen: Die Ver­tei­diger Ales­sandro Cos­t­a­curta und Mauro Tas­sotti waren beide gesperrt. Wer konnte helfen? Als die zwei Mann­schaften zum Finale auf den Rasen kamen, trauten die Zuschauer ihren Augen nicht: Die Ita­liener wurden ange­führt von Baresi, der noch vor 23 Tagen auf einem OP-Tisch gelegen hatte.

Das gefürch­tete Angriffsduo der Bra­si­lianer – Bebeto und Romario – machte Baresi aus ver­ständ­li­chen Gründen als schwa­chen Punkt aus und lief ihn immer wieder an, doch Ita­liens Libero stellte sich als bester Mann auf dem Platz heraus. Wie der eng­li­sche Jour­na­list Sher­idan Bird viele Jahre später schrieb: Er war ein alternder König unter lauter jungen Prinzen. Los Angeles wurde Zeuge einer Lehr­stunde dieser ver­schrum­pelten Legende, die hinten alles zusam­men­hielt und im Mit­tel­feld Regie führte. Erst als Baresi kurz vor dem Ende einen Krampf bekam, wurden die Men­schen daran erin­nert, dass dieser Titan, dem wie immer das Hemd aus der Hose hing, ein Mensch aus Fleisch und Blut war.“

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Doch aus­ge­rechnet dieser Titan vergab im Elf­me­ter­schießen den ersten Straf­stoß der Ita­liener. Roberto Bag­gios Fehl­schuss gilt als großer iko­ni­scher Moment dieses End­spiels, doch der Anblick der Nummer sechs, die auf die Knie sank, als der Ball über die Latte flog, war für viele Tifosi viel­leicht noch schmerz­hafter. Denn sie alle wussten, dass dies Baresis letzter Schuss für Ita­lien gewesen war. Und viel­leicht zum ersten Mal hielten in diesem Augen­blick auch viele neu­trale Zuschauer nicht mehr zu den läs­sigen Samba-Kickern vom Zuckerhut, son­dern zu den Abwehr­künst­lern vom Apennin. Alles wegen eines kleinen Mannes mit kaputten Knien, der schon damals fast so alt aussah, wie er nun geworden ist.