Die Fußballwelt huldigt Andi Brehme für sein Elfmetertor im WM-Finale 1990. Der viel schönere Treffer gelang ihm allerdings im Achtelfinale gegen die Niederlande. Über das relaxteste Tor aller Zeiten.
Es gibt viele verschiedene Arten von Toren.
Da sind diese Affekttreffer, die kein menschliches Gehirn vorausberechnen kann. Diese Momente, wenn wir uns im Block wie grenzdebile Tresenfliegen erst noch zwei‑, drei Mal vergewissern müssen, um wirklich sicher zu sein, dass der Ball da unten bereits die Maschen massiert. Es sind Augenblicke, die uns von Begnadeten geschenkt werden. Orgiastische Schockerlebnisse, die uns als Zuschauer atem‑, aber auch ratlos zurücklassen, weil sie uns mit einer derartigen Wucht erwischen, dass wir uns schütteln wie ein angeknockter Kirmes-Boxer in der 15. Runde nach einem Wirkungstreffer. Tore, die aus dem Nichts kommen. Wie ein Schluckauf, ein Blitzlicht oder ein ICE.
Und dann gibt es Tore, die wir schon Sekunden im Voraus kommen sehen. In die wir uns als Zuseher einkuscheln können wie in einen warmen Mantel, weil wir den Augenblick, wenn der Ball über die Linie geht, regelrecht körperlich erspüren. Wenn die Kugel aufsteigt wie ein Skiflieger am Holmenkollen, der Zuschauer ein- und ausatmen kann, ein und aus. Und dann: Fertigmachen zur Exstase. 4−3−2−1. Bäääääääääm.
Die „Ben Hurs“ des Fußballkinos: Klaus Augenthaler vs. Uli Stein, Bernd Schuster vs. Andi Köpke. Am allerliebsten aber erinnere ich mich an die hunderstel Sekunden, die sich an den Moment anschlossen, als der Uhlenhorster Andreas Brehme mit der Innenseite seines adidas-Lederschuhs im Achtelfinale Deutschland gegen die Niederlande bei der Weltmeisterschaft 1990 die Kugel von der linken Strafraumkante des San Siro in die Richtung des Tores von Johannes Franciscus Van Breukelen, schlenzte, ja, fächerte oder soll ich sagen: sanft drapierte.
Es sind Sekundenbruchteile, die sich in meiner Erinnerung wie das fluffige Pianothema eines Italo-Sommerhits fest gesetzt haben.
In diesem Match konnte alles passieren. Da lieferte sich ein Sportsmann wie Rudi Völler im Kabinengang mit seinem Gegenspieler ein Handgemenge. Da schossen Körpersekrete durch den Strafraum wie Geschosse durch eine „Star Wars“-Episode. Und auf der Tribüne saßen zwei deutsche TV-Kommentatoren und trugen unsichtbare Pickelhauben auf wutgeschwängerten Schädeln. Das ganze Match, ein enges Höschen, ein brodelnd heißer Tanz.
Und was macht Andreas Brehme? Er schickte uns in dieser überhitzten Atmosphäre in der 85. Minute für den Hauch eines Moments an den weißen Strand von San Angelo. Mit einem Campari‑O in der Hand. Der Treffer war so locker und leicht geschlagen – der schwamm sogar in Milch.
Nur schemenhaft sind meine Erinnerungen, was passierte, als die Kugel nach einer gefühlten Ewigkeit die Fasern des Netzes erreicht hatten. In meinem Kopf hatte es „Klack“ gemacht. Wie bei einem Trinker, wenn der Schnaps wie von tausend Flammen getrieben, endlich in die Fontanelle schießt.
Auch wenn er in seinen Interviews ein anderes Bild vermittelte, Brehme schüttelte in diesem Moment aus dem Fußgelenk das klobige Image der Vokuhila-Träger ab und signalisierte allen, die es live mitkamen: „Leute, kommt ma runter. Wir bringen das Ding hier flauschig nach Hause.“
Es gibt sicher spektakulärere, wichtigere Tor in der Geschichte als Brehmes Treffer im Achtelfinale. Aber ich bin überzeugt, nie hat die Welt ein relaxteres Tor gesehen.
Eine Entspanntheit, die die spätere WM-Siegtorschütze übrigens in seinem Restleben an den Tag legte. Unvergessen das Interview mit dem Matchwinner nach dem WM-Finale gegen Argentinien, als Brehme auf die Reporterfrage, was er denn als erstes nach seiner Rückkunft als frischgebackener Weltmeister in Deutschland zu machen gedenke: „Dann gehe ich mit meinen Hamburger Freunden schön in der Osterstraße in Eimsbüttel zum Griechen.“
Ruhe in Frieden, Andi Brehme. Hoffentlich haben sie da oben Gyros mit Tzatziki.