Die 11FREUNDE-Dienstagskolumne: Jede Woche machen sich Lucas Vogelsang, Frank Willmann, Titus Chalk und Frank Baade im Wechsel Gedanken über den Fußball, die Bundesliga und was sonst noch so passiert. Wenn unser heutiger Kolumnist Lucas Vogelsang nicht gerade für uns unterwegs ist, schreibt er für den Tagesspiegel, textet für Theaterstücke oder flaniert beseelt durch Berlin.
Das hat man nun davon, wenn man auf Typen hört, die aussehen wie streng liberale Staubsaugervertreter. Einstecktuch im mit Goldknöpfen verzierten Kapitänssakko, ölige Frisur, die es zur Guttenberg-Brille ganz offensichtlich gratis dazu gibt. Quasi auf Rezept. Er stand vor ein paar Tagen neben mir in einer dieser verrauchten Bars, die ja heute nicht mehr Bars heißen, und schon gar nicht mehr einfach nur Kneipe, sondern Smoker’s Lounge und sagte, ganz beiläufig: „Da hab ich letztes Mal einfach einen großen Schein auf Bayern gesetzt.“
Interessant. Fußballwetten. Nicht mein Ding, gab ich ihm zu verstehen. Und ohnehin, jetzt dieses Gespräch muss auch nicht unbedingt sein. Aber da war er schon, auf der Schussfahrt seiner Wettgeschichte, unaufhaltsam in Richtung Pointe unterwegs.
Wetten, das ist wie Autos verkaufen, oder Boote.
FDP-Grinsen. Wäre das ein Comic gewesen, sein linker Eckzahn hätte kurz gefunkelt. Und jetzt, sagte er dann, habe ich viele große Scheine. So einfach ist das. Wetten, das ist wie Autos verkaufen, oder Boote. Ein Kinderspiel, wenn man nur weiß, wie. Darauf eine Runde Sambuca für mich und meinen Freund hier! Zwei Finger in Richtung Barmann. Calmund-Kralle in meinem Nacken. Der Rest des Abends: Erinnerungen in Zuckerwatte. Ich hatte diese Unterhaltung eigentlich längst vergessen. So wie man Fernsehbilder vergisst. Aber am Samstag fiel mir das mit den großen vielen Scheinen plötzlich wieder ein.
15 Uhr am Kottbusser Tor. Die Stadt so kalt, dass man die Temperatur nur noch in Wolgograd messen konnte. Ich war trotzdem unterwegs. Wochenendwege. Das Übliche. Kurz vor der U‑Bahn aber fiel mein Blick auf ein großes Schild. „Hattrick Sportwetten“. Ich hatte noch Zeit, also stieg ich die Treppen hinauf und drückte die Klinke der schweren Glastür. Der Raum nicht mehr als ein über die Adalbertsraße gespannter Betonschlauch, halb Wartezimmer eines Busbahnhofs, halb türkischer Kulturverein. Fünf Meter breit, zwanzig lang, Automatenkaffee zu 50 Cent.
Erster Eindruck: Klare Männersache dieses Sportwettending. Sie saßen an runden Tischen, auf Barstühlen an den Fenstern oder standen einfach nur, mit ihren Blicken zogen sie eine Tangente zwischen den Flachbildschirmen über ihren Köpfen und den Zetteln in ihren Händen. Glücksritter in langen Mänteln, die ihre Gebetsketten angespannt durch ihre Finger rennen ließen, vertieft in die Wettprogramme, als wären sie die Betriebsanleitung zum sicheren Reichtum. Gesprochen wurde kaum. Unter den Männern, hinter den Fenstern: Wochenendtouristen-Betrieb, über ihnen, im LCD-Flimmern der Bildschirme, das europäische Fußballwochenende säuberlich zerlegt in den Binärcode der Zocker. 1 X 2, 3F, O:O, 1:1.
Wollen wir wetten: Damenvolleyball, Ski Alpin, Pferderennen…
Gut, keine Ahnung, wie das jetzt gehen sollte. Ich hatte das noch nie gemacht. Erst einmal versuchte ich mich zu orientieren, steuerte einer gewissen Logik folgend, auf den Tresen im Eingangsbereich zu, digitale Kassenhäuschen. Unaufhörlich wurden Geldscheine und Zahlenkombinationen über die Theke geschoben. Ich griff nach einem der Programme, in der Hoffnung, darin eine Antwort zu finden. Doch die achtundsechzig eng bedruckten Seiten waren auf den ersten Blick so aufschlussreich wie ein versehentlich auf Kyrillisch mitgelieferter Bauplan für eine Espressomaschine.
Immerhin wusste ich nun aber, dass ich heute nicht zwingend nur auf die Bundesliga wetten musste. Ski Alpin der Männer war hier genauso im Angebot wie zweitklassiger Damenvolleyball in Polen und ein Pferderennen in Shanghai. Während ich auf den hinteren Seiten noch nach Knastcatchen in Litauen oder ostholsteinischem Querfeldeinboule suchte, wurde ich plötzlich von drei jungen Männern umringt, die mühelos als Komparsen eines Bushido-Videos durchgegangen wären. Sie hatten scheinbar sofort erkannt, dass ich hier nur Tourist sein konnte. Und begannen nun, mir in einigen knappen Sätzen zu erklären, wie das Ganze funktionierte. Keine drei Minuten später platzierte ich eine wahnwitzige Kombinationswette auf den Bundesliga-Nachmittag. Heimsieg Schalke gegen Mainz. Die Null zwischen Hertha und Hannover.
Weil ich seit jeher eine Schwäche für Außenseiter habe, setzte ich auch gleich noch auf einen Auswärtssieg von Stuttgart gegen Leverkusen. Und, in der Hochstimmung des Ahnungslosen, glaubte ich am Ende tatsächlich sogar an einen Überraschungscoup der Wolfsburger gegen Gladbach.
Ich bekam meinen Schein. Maximale Auszahlung: 1.599 Euro!
Geld wechselte den Besitzer, gerade noch rechtzeitig. Die Uhr zeigte 15:27. Ich bekam meinen Schein. Maximale Auszahlung: 1.559 Euro. Große Augen. Vielleicht hatte der Staubsaugervertreter mit dem FDP-Einstecktuch ja doch Recht. Vielleicht konnte alles so einfach sein. Und nächste Woche dann: Schampus auf den Malediven. Bereits elf Minuten später traf Kießling für Leverkusen. Blick auf den Zettel: Erstes Tor gleich Scheiße. Keine weiteren 60 Sekunden vergingen und Mainz jubelte auf Schalke. So viel zum Thema.
Noch ein Blick auf den Zettel. Warnung: Wetten kann süchtig machen. Ich ging zum Tresen und setzte mein restliches Geld auf einen Ausgleich der Schalker bis zur Pause. Nichts. Schon mit dem Halbzeitpfiff hatte ich jeden Gedanken an Südsee-Sektorgien verworfen. Das schnelle Geld ging mir langsam auf die Nerven. Allerdings war ich nicht der einzig Glücklose über der Adalbertstraße. Die ersten ungültigen Wettscheine, zerknüllt, zerrissen, bespuckt, lagen auf der grauen Auslegware. Trostloses Konfetti.
Du hast auch Schalke. Wieder nickte ich.
Kurz mal an die Frischluft. Draußen wurden aus Daunenjackengesichtern Rauchschwaden in die Kälte geblasen. Eine Gruppe Jugendlicher stand an der Ballestrade und zielte mit Schneebällen auf Spaziergänger. Stimmenbrüchiges Kriegsgeheul. „Pubertät“, sagte eine der Daunenjacken und zog wieder an seiner Zigarette, dunkle Augen unter einer dunklen Kapuze. Ich nickte. „Und läuft’s?“, fragte er. Ich nickte nicht mehr. Da begann er zu lachen und ließ einen dieser ortstypischen Halbsätze, in denen sich ganze Geschichten verstecken können, folgen: Du hast auch Schalke. Wieder nickte ich. Er streckte seine Hand aus. Erhan. Und dann erklärte mir Erhan, der jeden Tag hier wettet, warum Schalke nicht mehr gewinnen wird. Alles Betrug.
Klar, hätte man auch mal vorher drauf kommen können. Erhan: „Überleg mal, allein in Europa haben wahrscheinlich 80 Millionen Menschen auf dieses Spiel gesetzt. Und dann kommt noch Asien dazu.“ Er machte eine Pause, in der er seine Worte mit einer Gestik unterstrich, als hätte er seine Hand soeben auf eine heiße Herdplatte gelegt. So viel Geld, sollte das wohl heißen. Dann holte er seinen Wettschein aus der Jackentasche und warf ihn über das Geländer in die Tiefe. Er spuckte hinterher. Kopfschüttelnd. Das macht alles keinen Sinn.
„Viel Glück“, sagte er noch, bevor er wieder im Innern des Wettbüros verschwand.
Nächste Woche aber, das konnte man ihm ansehen, wird er wieder hier stehen, um vielleicht aus einem kleinen Schein doch noch viele große Scheine zu machen. Ich ging nicht mehr zurück. Den Rest meines Nachmittags verbrachte ich in einer Bar. Dort konnte man rauchen. Der Typ mit dem Westerwelle-Jackett kam nicht vorbei. Schalke spielte Unentschieden.