Vor 110 Jahren kam in Buenos Aires Helenio Herrera zur Welt. Eine schillernde Figur – und der umstrittenste Trainer der Fußballgeschichte.
Besonders wütend war die Öffentlichkeit nach Inters zweitem Erfolg im Pokal der Landesmeister in Folge. Am 27. Mai 1965 hatten die Italiener das Glück, das Finale gegen Benfica vor eigenem Publikum bestreiten zu können. Auf einem durch Dauerregen fast unbespielbaren Rasen ging Inter in Führung, als der gegnerische Torwart einen harmlosen Schuss durch die Hände gleiten ließ. Nach dem Wechsel verletzte sich jener Keeper auch noch. Weil man damals nicht auswechseln durfte, spielte Benfica die letzten 32 Minuten in Unterzahl. Und was taten die Gastgeber? Wie das „Sport-Magazin“ empört schrieb: „Inter baut seinen Riegel vor dem Strafraum auf, lässt neun Portugiesen anrennen.“
Heute würden viele Leute das vermutlich nicht als verwerflich bezeichnen, sondern als vernünftig. Warum hätte Inter auf einem solch tückischen Boden nach vorne spielen sollen, anstatt gegen einen immer müder werdenden Gegner auf Konter zu lauern? Um dem Publikum zu gefallen? Nein, Herrera hatte den Inter-Tifosi von Anfang an erklärt, worum es hier ging und was sie zu erwarten hatten: „Nur das Ergebnis zählt, und zwar das positive“, sagte er. „Wer das nicht begreift, muss scheitern.“
Er wusste, wovon er sprach. Erstens hatte ihm sein Chef einen eindeutigen Auftrag gegeben. Dieser Chef war der Ölmagnat Angelo Moratti, seit 1955 Präsident von Inter. Obwohl er sich gut mit dem Weltmann Herrera verstand, hatte seine Geduld ihre Grenzen. Dem Vernehmen nach stellte er seinem Trainer im Sommer 1962 ein Ultimatum: Titel oder Laufpass. Das wäre ihm durchaus zuzutrauen, denn Moratti war mindestens so ein Dickkopf wie sein leitender Angestellter.
So galt Herrera als totaler Disziplinfanatiker und wurde in der Presse schon mal „Sklaventreiber“ genannt. Gnadenlos sortierte er jeden aus, der sich ihm nicht unterwarf. Bezeichnend war der Tag im August 1961, als er seine Spieler im Umland von Mailand zur Laufeinheit bat. Herrera schärfte ihnen ein, dass sie die Strecke in einer bestimmten Zeit zu schaffen hatten. Drei Spieler, darunter der Spanier Luis Suárez, für den Inter gerade die Weltrekordsumme von 250 Millionen Lire an Barcelona gezahlt hatte, bekamen Probleme mit dem Tempo. Als sie schnaufend den Parkplatz erreichten, stellten sie erleichtert fest, dass der Mannschaftsbus auf sie gewartet hatte. Die drei verlangsamten ihre Schritte, um zu Atem zu kommen, und waren nur noch einige Meter vom Bus entfernt, als Herrera die Tür schloss. Der Bus rollte davon, Suarez und seine zwei Mitspieler mussten zehn Kilometer zu Fuß laufen, um in die Stadt zu kommen.
Doch nicht jeden brachte Herrera zur Räson. Inters Linksaußen Mario Corso, den die Tifosi „Gottes linken Fuß“ nannten, trieb seinen Trainer zur Weißglut, weil er oft die Diva raushängen ließ. Liebend gern hätte Herrera ihn zum Teufel gejagt, doch Moratti hatte einen Narren an Corso gefressen und blieb stur. Der Stürmer war schon da, als Herrera 1960 zu Inter kam, und er war auch noch da, als Herrera acht Jahre später wieder ging.