Vor 110 Jahren kam in Buenos Aires Helenio Herrera zur Welt. Eine schillernde Figur – und der umstrittenste Trainer der Fußballgeschichte.
Wir feiern ja gerade den 20. Geburtstag unseres kleinen Familienmagazins, da darf man mal auf die Titelgeschichte aus dem Mai 2014 verweisen. In der ging es um die modernen „Supertrainer“ und „den bizarren Kult um Guardiola, Klopp, Mourinho und Co.“ In der Tat sind die prominentesten unter den Trainern heute ja viel mehr als bloß Fußballlehrer. Sie müssen in einer Person Taktikgenie und Entertainer sein. Sie sollen mit superreichen Spielern ebenso klarkommen wie mit exzentrischen Klubbesitzern. Sie sind harte Hunde und trotzdem einfühlsame Psychologen. Sie geben den Intellektuellen und gleichzeitig den Mann des Volkes. Sie waren selbst eher unauffällige Spieler – und sind jetzt Popstars an der Seitenlinie.
Anders gesagt: Sie sind so, wie Helenio Herrera schon vor mehr als einem halben Jahrhundert war.
Selbst wer fast nichts über Herrera weiß, der glaubt doch dies zu wissen: Der Mann hat den Catenaccio erfunden und damit den berüchtigten italienischen Defensivfußball. Doch schon das ist so falsch wie vieles andere, was über eine der schillerndsten Figuren des 20. Jahrhunderts geschrieben wurde. Daran ist Herrera selbst alles andere als unschuldig, denn obwohl seine Lebensgeschichte schon ohne jedes Hinzudichten abenteuerlich genug war, legte der Mann mit den vielen Nationalitäten auch noch falsche Fährten.
So steht in der Herrera-Biografie, die der bekannte deutsche Sportreporter Helmuth Bendt 1967 veröffentlichte, dass Helenio im April 1916 das Licht der Welt erblickte. Dieses Detail machte Bendt auf den folgenden Seiten des Buches zu schaffen, denn er musste sich zusammenreimen, wie Herrera schon Anfang der Dreißiger als Spieler in Frankreich auftauchen konnte. Die Erklärung ist so einfach wie faszinierend: In jedem von Herreras drei Pässen – ein spanischer, ein französischer, ein argentinischer – stand ein falsches Datum. Vielleicht nutzte Herrera die Kriegswirren, um sich sechs Jahre jünger zu machen, vielleicht geschah dies auch erst bei seinem Umzug nach Spanien Ende der Vierziger. In Wahrheit wurde er jedenfalls schon 1910 geboren.
An dieser Stelle muss man noch mal ein paar Sätze zurückgehen. Inzwischen ist es ganz normal, dass Bücher über die großen Trainer veröffentlicht werden, doch Mitte der Sechziger kam das eher selten vor. Und dann noch ein deutsches Buch über einen Sohn spanischer Eltern, der noch nie in Deutschland gearbeitet hatte? Vollends ungewöhnlich und ein guter Hinweis darauf, welche Sonderstellung Herrera damals genoss. Er war nicht nur der berühmteste Trainer der Welt, sondern der bekannteste, den die Welt bis dahin gesehen hatte, sozusagen der Urvater der Guardiolas, Klopps und Mourinhos. Und er war der umstrittenste. „Er ist ein Abgott für die einen, ein Satan für die anderen“, schrieb Bendt. „Die einen küssen seine Konterfeis in den Montagsblättern, die anderen spucken ihn an, wenn sie ihn sehen, schreiben Drohbriefe oder trachten ihm nach dem Leben.“
Wie gesagt, 1967. Wow.
Der Hass kam daher, dass Inter Mailand unter Herrera den europäischen Fußball beherrschte – und ihm dabei sein Grab schaufelte, wie viele Beobachter ernsthaft meinten. Jahrelang hatten Teams wie Real Madrid und Benfica Lissabon die europäischen Fans mit spektakulärer Offensive begeistert, nun stellte Herrera einen ausputzenden Libero hinter die Manndecker und schien kein gesteigertes Interesse daran zu haben, überhaupt in Ballbesitz zu kommen.