John Ledwidge ist Platzwart bei Leicester City. Das heißt, eigentlich ist er ein Künstler – der seit 2017 nicht mehr ausstellen darf.
Aber wie macht man so etwas Filigranes wie eine Blüte? „Wir haben eine Schablone in Blütenform gebaut, eine Art Stempel“, sagt Ledwidge. „Dann haben wir die entsprechende Stelle gemäht und anschließend mit der Schablone die Halme in die andere Richtung gedrückt.“ Der Effekt war so verblüffend, dass es nicht nur Lob für Ledwidge gab. Manche Zuschauer waren der Meinung, dass er seine Kreativät etwas zügeln sollte. Solche Kritik war nicht selten. Als 11FREUNDE einige Monate vor dem spektakulären Mohnblumen-Muster mit dem Ingolstädter Chef-Platzwart Sepp Lindermayer sprach, sagte der über Ledwidge: „Ein leidenschaftlicher Musterfan, das ist wirklich speziell. Uns ist das etwas zu exzentrisch. Und Schiedsrichter sowie Spieler sind vielleicht auch abgelenkt, deshalb verzichten wir auf solche Experimente.“
Auch die UEFA sah das so, weshalb Ledwidge seine künstlerische Neigung nicht ausleben durfte, als Leicester sensationell die Meisterschaft holte und zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren wieder auf der europäischen Bühne antrat. „Die UEFA verlangt, dass wir achtzehn Blöcke mähen,“ erklärte Ledwidge 11FREUNDE im Herbst 2016. „Man legt uns nahe, es so zu tun, dass sie den Schiedsrichterassistenten bei ihrer Arbeit helfen.“ Damit ergeben sich die neun Streifen pro Spielhälfte, die man vom Fernsehen kennt. Sie verlaufen parallel zu den Torlinien und dienen so den Linienrichtern bei Abseitsentscheidungen zur Orientierung. Jedenfalls in der Theorie. „Ich habe selbst einen Schiedsrichterschein“, sagt Ledwidge. „Ich denke, ein guter Assistent sollte nicht die Hilfe des Rasens benötigen.“
Das Standardmuster, das die UEFA wünscht, ist deutschen Fans bestens vertraut, denn auch in der Bundesliga ist es schon lange Vorschrift. In einem Konzept, das 2008 im Auftrag der DFL vom „Arbeitskreis Sportrasen“ erstellt wurde, schlugen die Autoren vor, „ein einheitliches Bild zu gewährleisten“. Sie empfahlen, die Breite der einzelnen Streifen ebenso exakt festzulegen wie die Schnitthöhe des Rasens. Zwar wurden nicht alle der im Regulierungswahn entstandenen Vorschläge umgesetzt, trotzdem hatten deutsche groundsmanager wie Lindermayer von diesem Moment an weit weniger freie Hand als ihre britischen Kollegen. Was nicht heißt, dass es keine Ausnahmen gibt. Im April 2016 durfte Lindermayer nach vorheriger Absprache mit dem Verband ein bayerisches Rautenmuster in den Mittelkreis mähen, um den 500. Jahrestag des Reinheitsgebotes zu feiern. Und ein paar Wochen später, gegen die Bayern, zierten Kreise das Grün. Lindermayer erklärte: „Hier in Ingolstadt halten wir seit Jahren die Tradition aufrecht, sofern es für beide Mannschaften sportlich nicht mehr relevant ist, am letzten Heimspieltag noch etwas Besonderes zu kreieren.“
Zu diesem Zeitpunkt war auf der Insel das Besondere fast schon zur Normalität geworden. Zwar war Ledwidge der Star der Grasdesigner, aber nicht der einzige Platzwart, der sich als Künstler verstand. In Southampton hatte Andy Gray zu besonderen Gelegenheiten immer etwas in petto. Und Lee Jackson von Manchester City galt in der Szene als lebende Legende, seit er vor fünfzehn Jahren in kurzer Zeit eine Reihe von Meisterwerken produzierte. Sein Schaffensschub begann mit dem Rücktritt von Trainer Kevin Keegan im März 2005. Keegan mochte nämlich, wie Jackson sich mal ausdrückte, „einen traditionellen Schnitt“. Unter seinem Nachfolger bekam Jackson freie Hand, und innerhalb weniger Monate schuf er zahlreiche Schleifen, Ovale und hübsche Schottenkaros. Auch in Leicester hatte der Trainer keine Probleme mit seinem Musterknaben. „Wir haben Claudio Ranieri vor meinem ersten Muster um Erlaubnis gefragt“, sagte Ledwidge. „Er meinte, es würde ihn nicht stören. Solange das Gras im Stadion exakt so hoch ist wie auf dem Trainingsplatz, war er glücklich.“
Nicht glücklich war die englische Liga. Kurz vor dem Start der Saison 2017/18 untersagte sie den Platzwarten, Muster in den Rasen zu mähen. „Durch diese zusätzliche Regel werden die Bestimmungen in der Premier League den Regularien der UEFA angepasst“, hieß es in der offiziellen Meldung. „Das ist ein trauriger Tag für die groundsmen von Leicester City“, klagte eine regionale Zeitung. Doch bevor die neue Anweisung in Kraft trat, übertraf John Ledwidge sich noch einmal selbst. Für die letzten beiden Heimspiele der Saison 2016/17, gegen Tottenham und Bournemouth, mähte er das Vereinswappen in den Mittelkreis. Es war so etwas wie das letzte Hurra, denn seither kann er nur noch dann kreativ werden, wenn Leicester im Pokal spielt. Was jedoch nicht heißt, dass die Ära der pitch patterns vorüber ist. Im Sommer 2019 wurde der Schotte Neil Wood für kurze Zeit zum neuen John Ledwidge, weil er für den Zweitligsten Brechin City ein fast psychedelisches Rasenmuster entwarf. Die Website Sportbible wollte ihm eine Medaille verleihen, der Daily Record einen Schönheitspreis. „Die Streifen wurden langweilig“, erklärte der bescheidene Künstler, „da wollte ich mal was anderes machen.“