Normalerweise gibt es an dieser Stelle „Eine Begegnung mit“ dem Interviewpartner aus dem aktuellen Heft. Unser Redakteur Ron Ulrich war für eine Reportage der aktuellen Ausgabe in Duisburg, als der Klub nach zähem Warten die Lizenz für die Dritte Liga bekam. Eine Rundreise zu Schimanskis Erben und dem Jörg Wontorra der Trinkhalle.
Lesen Sie im aktuellen Heft 11FREUNDE#141 eine sechsseitige Hintergrund-Reportage zum Kampf des MSV um die Lizenz für die Zweite und Dritte Liga mit dem Titel „Ein Sommer am Abgrund“. Ab sofort im Handel.
„Können Sie Ihren Namen noch einmal buchstabieren?“ Die Frau am Empfang im Duisburger Stadion schreibt mit. „Y‑I-L …“, und so geht es weiter. Dann notiert sie die Position und das Alter des Anrufers. Der Profimannschaft des MSV Duisburg, dem Pokalfinalisten von 2011 und ehemaligen Zweitligisten, laufen die Spieler davon. So bewerben sich unaufgefordert sämtliche Amateurkicker des Umlandes per Telefon. „Hier rufen ständig irgendwelche Spieler an und erzählen, was sie alles können“, sagt die Frau.
Dabei weiß an diesem Montagmorgen, dem 8. Juli, eigentlich noch niemand, wie die nahe Zukunft des MSV aussieht. Erst gegen Mittag entscheidet der Beschwerdeausschuss des DFB in Stuttgart, ob dem Verein die Lizenz für die Dritte Liga erteilt wird. Mitarbeiter, Spieler, Trainer und Fans – für sie war es bis dahin eine wochenlange Zitterpartie. Die Lizenz für die Zweite Liga wurde dem MSV verwehrt, nun könnte es ganz düster enden: mit der Insolvenz, der fünften Liga, mit Kündigungen.
Galgenhumor auf der Geschäftsstelle
Pressesprecher Martin Haltermann sitzt in einer der Logen des Duisburger Stadions. „Wir haben uns hier daran gewöhnt, nur von Tag zu Tag zu planen.“ Die Mitarbeiter mussten auf ihr Gehalt warten, keiner kann sich sicher sein, wo er im kommenden Monat arbeitet. Dem Schock der ersten Tage folgte Galgenhumor. Bei öffentlichen Lamentos der Stadtvorderen über ihre Arbeitsbedingungen schlug einer der MSV-Mitarbeiter vor, man könne für sie auf der Geschäftsstelle mit dem Hut sammeln.
Haltermann schaut auf die Uhr, es ist zwölf. Gerade beginnt in Stuttgart die für den MSV Duisburg so entscheidende Sitzung. Der Blick geht raus in das Innere des Stadions, eine moderne Arena für über 30 000 Zuschauer, Baukosten über 40 Millionen Euro. Die italienische Nationalmannschaft spielte und trainierte hier vor ihrem Weltmeisterschaftstitel 2006. Duisburg zog vor zwei Jahren nach einem Sieg über Cottbus ins Pokalfinale ein. Viel mehr große Feiern gab es hier nicht – abgesehen von ein paar Abibällen. Die Miete aber drückte dem Klub auf den Schultern, er schlitterte fortwährend ins Minus. Spielt der MSV noch nicht einmal in Liga drei, dann wird das Stadion zum Geisterschloss.
Schimanski vermisst die alte Zeit
Gegen 15 Uhr vermeldet der lokale Radiosender, dass der MSV mit der Dritten Liga rechnen kann. Martin Haltermann bestätigt dies. Es ist die Topmeldung, jene Nachricht, auf die alle in Duisburg gewartet haben. Alle weiteren Nachrichten sind allerdings nicht minder brisant. Der Küppersmühlen-Bauskandal ist ein Thema, verschwendete Gelder, die drohende Pleite für die Wohnungsbaugesellschaft, Pfusch. Ein neues Gutachten zur Loveparade-Katastrophe kommt heraus, die Strafermittlungen dauern drei Jahre nach der Tragödie noch an, wichtige E‑Mails sollen gelöscht worden sein. Das alles ist schlimmer als der Fußball, aber der MSV hat sich in den Skandalen, die wie Mehltau über der Stadt liegen, nicht gerade ausgenommen. Mauscheleien, Ego-Trips, Machtkämpfe – das Mantra „die da oben machen, was sie wollen“ hat sich hier etabliert. Und „Schimanski“ hat schon lange keine Türen mehr eingetreten.
Kürzlich war er, also Götz George, wieder in der Stadt, um einen neuen „Tatort“ zu drehen. Gleich legten ihm Fans einen MSV-Schal um den Hals, als Unterstützung für die Solidaritätsaktion „Zeig Streifen“. Doch selbst „Schimmi“, also Götz George, beklagte, dass es das alte Duisburg nicht mehr gebe. Was ein Duisburger Schrottplatzchef in der „Lokalzeit“ unter anderem trocken damit erklärte, dass der Puff renoviert worden sei.
„Früher waren wir eine Familie“, erzählt ein älterer Mann in seinem Ohrensessel. „Wir fuhren mit den Spielern im Bus, tranken mit Ennatz Dietz ein Bier auf der Rückbank.“ Der Mann ist 88 Jahre alt, ein echter Duisburger, war Ewigkeiten beim MSV beschäftigt, bis zu diesem Jahr. Die knochige Hand fährt durch das glatte Haar. „Der MSV ist mein Leben. Meine Frau sagte immer: Du bist über 80, was rennst du ewig zum Sportplatz, guck zu Hause im Fernsehen.“ Er hörte nicht auf.
Ein Leben, das wirkt wie zu viel für einen Einzelnen, fünf Jahre in russischer Gefangenschaft, erfolgreicher Unternehmer, Bundesverdienstkreuz. Herzschrittmacher, mehrere Bypässe – „kein Wunder, wenn man beim MSV ist“, so kommentiert man das im Ruhrpott. Der Mann will aber nicht, dass sein Name irgendwo erscheint. Denn aus der Duisburger Familie ist ein zerstrittener Haufen geworden mit verschiedenen Lagern. Und der MSV muss sich über die Lizenz für die dritte Liga freuen. „Ich nicht“, sagt der Mann und hebt den Finger. „Der MSV gehört nach oben. All die Mannschaften, die jetzt kommen, Heidenheim undund. Da könnte ich weinen.“
700 Kilometer im Neunsitzer
Am Stadion der Duisburger ist die Euphorie hingegen groß. Fans feiern in Trikots und mit Schals – schließlich ist ihr Klub dem Tod von der Schippe gesprungen. Sie haben wochenlang alles dafür getan, Mahnwachen, Menschenketten, Klassikkonzerte, Lesungen vor dem Stadion, Soli-Demozug, Kerzenmeere. Jetzt singen sie den umgedichteten Klassiker: „Eine neue Liga ist wie ein neues Leben“. Sie planen Busreisen zum ersten Auswärtsspiel der Dritten Liga. Nach Burghausen. 700 Kilometer entfernt. Um halb zwei Uhr morgens soll es im Neunsitzer losgehen. Die meisten Menschen würden so eine Reise nicht mal auf sich nehmen, wenn in Burghausen das Bernsteinzimmer aufgetaucht wäre.
Doch Duisburg ist wie elektrisiert ob des wiederbelebten Klubs. Am nächsten Tag laufen Kinder in Trikots zur Schule. Während sie in anderen Orten Namen wie Messi oder Ronaldo auf dem Rücken tragen, steht hier Dum oder Wolze. Und der Fußball-Stammtisch „Doppelpass“ mag zwar in München aufgezeichnet werden, erfährt seine täglichen Aufführungen aber an den Kiosken im Pott. An einem Büdchen nahe des Stadions mimt ein stämmiger Typ in kurzer Hose und MSV-Shirt den Jörg Wontorra, während er Kindern Kratzeis und Lakritze rausgibt.
„Wir waren immer zu gut für die Zweite und zu schlecht für die Erste Liga“, ruft er und lehnt sich über die Ladentheke. „Dann kam der ganze Schmu.“ Er redet sich in Rage, woanders würde die sich ansammelnde Schlange an Kunden protestieren, hier lauscht man gebannt und steigt dann mit Saisonprognosen ein. „Ich freue mich nur auf eine Sache: Dass wir die ganzen Dullivereine wie Heidenheim hier in Grund und Boden singen.“
Am ersten Spieltag der Dritten Liga spielt der MSV gegen Heidenheim. 18 000 Duisburger Fans kommen. Langjährige Begleiter des Vereins sagen hinterher, dass es in diesem Stadion noch nie so laut gewesen sei. Wie der Jörg Wontorra der Trinkhalle zu sagen pflegt: „Der MSV macht mich feddich.“