Ein Lieblingsspieler, von dem man keine Tricks auf dem Schulhof nachspielen konnte und dessen Frisur man nicht tragen wollte. Ron Ulrich verehrt trotzdem immer noch den Mann, der fast nie sprach und den sie „den Meister“ nannten: Jiri Nemec. Heute hat er Geburtstag.
Man muss nur einen Namen nennen. Nur einen Namen und in Windeseile erkennt man, ob der Gegenüber in den neunziger Jahren Spiele von Schalke geschaut hat oder nur mal bei „ran“ reingezappt hat. Der Name: Jiri Nemec. Letztgenannte umspielt ein Lächeln um den Mund, das sich erst zu einem breiten Grinsen und dann zu einem höhnischen Lachen auswächst. „Das ist doch der hässlichste Spieler, den es je gab.“ Es kommt vor, dass diesen Satz auch noch Menschen von sich geben, die selbst wie eine Schüppe Erde aussehen – aber das nur am Rande. Denn es gibt noch die andere Gruppe, also die, die tatsächlich Spiele des Tschechen gesehen haben. Sie werden beim Namen Jiri Nemec melancholisch in die Ferne blicken und sagen: „Ja, der Meister!“
Pavel Nedved wurde auf dem Höhepunkt seines Schaffens einmal gefragt, von welchem Spieler er überhaupt noch etwas lernen könne. Ohne lange zu überlegen hat er gesagt: Jiri Nemec. Der Mann, der Hosen in XXL trug, der als Letzter auf den Platz trabte, als würde man ihn zum Besuch bei der Schwiegermutter bitten. Doch der dann ein Laufpensum auf dem Platz hinlegte, dass sich die heutigen Fußball-Statistiker mit ihren Berechnungen von Laufwegen irgendwann entnervt und weinend in den Kleiderschrank sperren würden. Der Mann, der beinahe alle Tore einleitete, sei es mit Ballgewinnen oder präzisen Pässen. Er konnte den Ball so abschirmen, dass seine Gegenspieler ihn selbst mit Waffengewalt nicht ergattern konnten. Die „Sechser-Position“ hat einen Bedeutungsgewinn in der Fußballwelt erhalten, i‑Männchen lernen bald in der Grundschule, dass vor der Sieben die „Doppel-Sechs“ kommt. Einer fürs Kämpfen, einer für das Spielerische. Zu Jiri Nemec’ Zeiten gab es dort nur einen. Einen, der beides konnte.
Angeödet von der Glitzerwelt
Manager von Fußballvereinen neigen nicht dazu, öffentlich von ihren Lieblingsspielern zu sprechen. Rudi Assauer hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass Jiri Nemec seiner war. Man kann Assauers Einschätzung teilen, dass Schalke ohne Nemec zwei Pokalsiege und einen UEFA-Cup-Sieg weniger auf dem Briefkopf hätte. Auch Tschechien wäre wohl ohne den Kapitän Nemec nicht ins EM-Finale 1996 gekommen.
Und was macht dieser Kerl daraus? Als ihn Journalisten einmal nach dem Spiel zu einer neuerlichen Heldentat befragen wollen, ging er einfach weg und sagte: „Ich bin müde.“ Als ein anderer Journalist ihm an der Treppe entgegen kam, meinte er nur: „Habe ich alles schon deinen Kollegen erzählt.“ Müde Augen, lange verlotterte Haare, genial in dem, was er machte, verstört und angeödet über die Glitzerwelt um ihn herum. Auch wenn es schon mal geschrieben wurde: In Zeiten von „ran“ und Super-Slow-Motion war Nemec der Kurt Cobain des Fußballs. „Come as you are“. Oder in seinen Worten: „Ich bin Fußballspieler, kein Fußballredner.“ Der Fußball hurt gern mit Publicityludern und Blitzlichtjunkies rum, produziert Leute, die das Getöse schätzen und nicht das Spiel. Spieler wie Cristiano Ronaldo werden von langjährigen Fans ihrer Vereine geachtet, Spieler wie Nemec aber geliebt.
Einziges Manko: Torphobie
Was ihm neben seiner Medienscheuheit zum großen Star fehlte, war seine Torgefährlichkeit beziehungsweise seine Torphobie. Selbst auf der Torlinie suchte er einen besser postierten Mitspieler. Das ging so weit, dass das „Schalke Unser“ Aufkleber druckte, auf denen stand: „Schieß doch, Jiri“. Seine seltenen Treffer wurden gefeiert wie Festtage, es gab T‑Shirts mit dem Aufdruck: „Ich war dabei, als Nemec traf.“ Einmal, bei einem 1:1 gegen Freiburg, war es soweit und das Stadion stimmte an: „Meister! Meister!“ Ein Mann, der gerade fünf volle Bierbecher die Treppe runter trug, entgegnete: „Danke, ich weiß das sehr zu schätzen.“ In 257 Bundesligaspielen schoss Nemec sechs Tore. Kürzlich sagte ein Schalker Fan dazu: „Darüber bin ich sehr glücklich. Denn, wenn er auch noch Tore geschossen hätte, wäre er nach einem Jahr bei Real Madrid gelandet.“
P.S. Diese Rubrik sollte eine persönliche Note enthalten. Leider konnte ich aus vielleicht nachvollziehbaren Gründen nicht wie die anderen die Frisur meines Lieblingsspielers übernehmen, schon gar nicht seine überragende Spielintelligenz wie einen Fußballtrick nachmachen. Ich kann mich nur erinnern, wie wir einmal während der Schulzeit vollmundig unseren Klassenkameraden erklärten, dass wir am Tag zuvor blau gemacht hatten. Wir wurden verpfiffen. Als wir vor dem Lehrerzimmer saßen, meinte ich zu meinem Kumpel: „Wären wir doch wie ‚der Meister’. Der hätte einfach gesagt: ‚Ich bin müde’ und hätte danach geschwiegen.“