Stefan Kuntz krönt bei der U21-Europameisterschaft seine Amtszeit als Nationaltrainer. Über den späten Triumph eines Mannes, dem trotz großer Erfolge im deutschen Fußball oft nur der Preis als bester Nebendarsteller blieb.
Die Geschichte des Stefan Kuntz ist eine von Umwegen und Schnörkeln. Alles, was bei großen Spielern in der Rückschau stringent und logisch erscheint, wirkt bei ihm ungeplant und aus dem Zufall geboren. Schon sein Werdegang als Profi liest sich merkwürdig angesichts der Erfolgsbilanz, die der Mann aus Neunkirchen am Ende seiner aktiven Zeit vorweisen konnte. Kuntz wurde Deutscher Meister, Europameister, Pokalsieger, zwei Mal Bundesliga-Torschützenkönig und „Fußballer des Jahres“. Gemeinhin hat ein Spieler mit derlei Meriten zumindest einmal für einen Top-Verein gespielt. Kuntz jedoch lief für Uerdingen, Bielefeld und Bochum in der Bundesliga auf. Seine größte Zeit erlebte er beim 1. FC Kaiserslautern.
Als Stürmer galt er nie als Feingeist, ihm eilte eher das Image des Überzeugungstäters voraus. Eine menschgewordene Dampframme, die nicht nach Löchern in der gegnerischen Abwehrreihe suchte, sondern diese mit der Wucht der Abrissbirne selbst hineinhämmerte. Journalisten verwiesen gern auf den Fakt, dass Kuntz vor seiner Profilaufbahn zum Polizisten ausgebildet wurde, um das Image des grobschlächtigen Angriffs-Bouncers zu zementieren. Die „Kuntz-Säge“ wurde zum geflügelten Wort für einen leidenschaftlichen Fußballer, der seine Tore nicht einfach schießt, sondern ins gegnerische Netz arbeitet. Die Rollen unter den Top-Stürmern seiner Zeit waren klar verteilt: Jürgen Klinsmann war der knuddlige Leichtathlet, Oliver Bierhoff das lässige Frisurenmodel, Andy Möller der sensible Künstler. Allesamt schwoften sie auf dem glänzenden Parkett der Serie A von Erfolg zu Erfolg. Kuntz hingegen war Ruhrpott, Ostwestfalen, Pfalz, war Vokuhila, Schweiß und Tränen.
Ein Bild, das ihm nicht mal im Ansatz gerecht wurde, schließlich hatte er sein Handwerk als Angreifer nicht nur mühsam von der Pike auf gelernt, sondern es schließlich an der Seite von Filigrantechniker Klaus Fischer, der sein Sturmpartner beim VfL Bochum wurde, hochklassig veredelt. Mit Fragen von Image und Fairness aber hat sich Stefan Kuntz nie lang aufgehalten. Bei der EM 1996 verhohnepiepelten die sonst so stilbewussten Briten nicht nur aufs Derbste seinen Namen (siehe Video der Lightning Seeds zu „Three Lions”), sondern auch seinen in die Jahre gekommenen Look aus Schnauz und schulterlangem Haar. Dass es Kuntz war, der dann im Halbfinale gegen die „Three Lions“ mit seinem Ausgleichstreffer das Ausscheiden das Gastgeberlandes einleitete, wurde geflissentlich übergangen.
Wenn heute über den EM-Titel von 1996 gesprochen wird, erinnern sich die Menschen gern an Oliver Bierhoffs „Golden Goal“, an Klinsmann und Matthias Sammer, im Zweifel sogar an den wortkargen Ausputzer Dieter Eilts. Kuntz hingegen, der von allen deutschen Angreifern die meisten EM-Einsätze hatte, blieb auch bei diesem Turnier auf seltsame Weise nur der Preis als bester Nebendarsteller. Ihm fehlte die Lobby. Vielleicht aber erschien der Junge aus den dezentralen Standorten einigen im Fußball-Establishment auch als nicht ausreichend vorzeigbar.
Er ist der Allergrößte – und kicken kann er auch noch! Saša Kalajdzic über Österreichs Titelchancen und die ganz besondere Autorität eines Marko Arnautovic.
Der Ruf des Malochers, den zwar jeder gern in seinen Reihen hat, dem aber für die großen Aufgaben und Ämter der Hauch Grandezza fehlt, blieb an ihm kleben. Den 1. FC Kaiserslautern durfte er ab 2008 zwar als Vorstandchef vor dem Abstieg aus der zweiten Liga retten. Den Funktionärsjob trauten sie ihm in der fernen Pfalz gerade noch zu, schließlich definieren sie sich beim FCK über Werte für die auch der Profi Stefan Kuntz gerühmt wurde. Wie sonst wäre es erklärbar, dass er nach einigen leidlich erfolgreichen Trainer- und Managerstationen im unterklassigen Fußball plötzlich in der Vorstandsetage auf dem Betzenberg anheuerte? Mit einer unvergleichlichen Motivationskampagne – „Herzblut“ – schürte er aus dem Stand in der gesamten Region ein Feuer der Solidarität, so dass der totgesagte Klub noch den Klassenerhalt schaffte – und bald darauf sogar wieder in die Bundesliga aufstieg.
Doch im von Eitelkeit und Missgunst überwucherten Fußball-Biotop der Pfalz ist nichts so alt wie der Erfolg von Gestern. Am Ende wurde Kuntz in Lautern unehrenhaft vom Hof gejagt. Menschen wie er, denen im Leben wenig zugefallen ist, können den Wert der Arbeit, der für einen Erfolg notwendig ist, gut einschätzen. Das sorgt für ein gesundes Selbstbewusstsein, das Gegenspieler gern als Arroganz oder gar Hybris interpretieren. Stefan Kuntz ist ein streitbarer Zeitgenosse und einer, der im Sinne des Erfolgs den direkten Weg einschlägt. Schließlich weiß er aus aktiven Tagen, dass er bei der Bewertung seiner Lebensleistung nicht auf das Urteil anderer zähen kann. Er weiß selbst am besten, was geht, und so eine Haltung prägt einen Menschen. Im Guten, mitunter aber auch im weniger Guten.
Dass er nach seinem Abschied beim FCK nicht etwa beim nächsten Klub in der Chefetage anfing, sondern beim DFB als Nachwuchstrainer, beweist seine Flexibilität. Aber auch seinen Mut, unkonventionelle Wege einzuschlagen, und seine Vielzahl an soften und harten Skills bezogen auf das Fußballgeschäft.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der 58-Jährige nun ausgerechnet als U21-Trainer seine wahre Bestimmung gefunden hat. Zum dritten Mal in Folge erreicht eine Juniorenauswahl bei einer EM unter Kuntz’ Leitung das Finale. Noch vor zwei Jahren äußerte der Trainer im 11FREUNDE-Interview sogar Zweifel, ob seine Elf angesichts des Mangels an Talenten überhaupt eine reibungslose EM-Quali spielen würde: „Es ist eine realistische Einschätzung, dass wir nicht mehr über eine so große Auswahl an Spielern verfügen, dass wir von den 55 Ländern in Europa von vornherein fünfzig locker in die Tasche stecken.“
„Ihr müsst wie Hyänen sein“
Nun aber hat sein Team in Slowenien den Titel geholt. Und die Sorge, aus Deutschland kämen mittelfristig keine veritablen Stoßstürmer mehr, scheint sich angesichts des Auftritts von Lukas Nmecha ebenfalls zu zerstreuen.
Stefan Kuntz beweist damit einmal mehr, wie wertvoll er für den deutschen Fußball in klassischen „Gegen-jede-Chance“-Momenten sein kann. Die Überzeugungskraft des Saarländers und sein fast magisches Menschenfängertum haben auch bei einem Jahrgang verfangen, den Experten bereits als Sinnbild für den Niedergang des deutschen Nachwuchsleistungssystem sahen.
Der Trainer hat seine Jungs mit Worten gekriegt, die er so oder ähnlich wohl auch von seinen einstigen Förderern, von Haudegen wie Kalli Feldkamp oder Rolf Schafstall, gehört haben dürfte: „Ich hab ihnen gesagt, Ihr müsst wie die Hyänen-Bande sein: Keiner kann sie leiden, aber sie bekommen, was sie wollen.“ Und so martialisch der Mann mit der Säge an diesem Punkt zumindest auf dem Papier klingen mag, wer das Match gegen Portugal gesehen hat, wird ihm kaum widersprechen.
Stefan Kuntz hat es geschafft, aus einem Haufen mehr oder minder (Hoch-)begabter ein Team zu formen, das gegen große Gegner widerstandsfähig auftritt und in wichtigen Spielen die Nerven behält. Kuntz’ Satz, den er gestern nach dem Spiel von der Bierdusche triefend in die Mikrofone sprach, macht auch für die anstehende EM der A‑Mannschaften Mut: „Diesem Jahrgang hatte man nicht viel zugetraut“ so Kuntz, der es zeitweise auch selbst so sah, „aber was ist Talent? Hier im Endspiel zu gewinnen oder die beste 100-Meter-Zeit zu laufen?“
Gerüchten zufolge denkt der U21-Coach über den Rücktritt von seinem noch bis 2023 laufenden Vertrag nach, weil es ihm an Perspektiven mangelt. Im 11FREUNDE-Interview 2019 antwortete Kuntz auf die Frage, ob er nach dem EM-Erfolg seiner Mannschaft in Italien nicht der geeignete Kandidat sei, um Jogi Löw als Bundestrainer zu beerben: „Ein nettes Lob, aber die Frage stellt sich nicht, weil wir einen Bundestrainer haben.“ Gut möglich also, dass er sich insgeheim erhofft hat, bei der Suche nach einem Nachfolger eine Rolle zu spielen. Doch der DFB hat mit Hansi Flick die prominentere, öffentlichkeitswirksamere Lösung gewählt, vielleicht auch die für Oliver Bierhoff und den Trainerstab unkompliziertere. Kuntz bleibt erneut nur die Rolle im Halbschatten des großen Erfolgs.
Abschreiben sollte man ihn deshalb nicht. Mal sehen, welchen Schnörkel die Laufbahn des Stefan Kuntz als nächstes vollzieht.