Er war der Gott der Champions League: An zehn Titeln war Johan Cruyff direkt beteiligt, fast alle Sieger waren von ihm beeinflusst. Heute vor fünf Jahren ist er gestorben. Eine Würdigung.
Die Diktierfunktion meines Computers stellt seltsame Dinge an. Jedes Mal, wenn es die Worte „Johan Cruyff“ schreiben soll, passiert der gleiche Fehler. Egal, wie ich den Namen ausspreche – ob „Chreif“, wie die Holländer, oder „Croyf“ wie die Engländer oder „Cruh-ief“ wie die Spanier –, die Software macht immer das gleiche daraus: Johan … Christ.
Mein Rechner steht offenbar in Verbindung mit einer höheren Macht, die mir etwas mitzuteilen versucht: dass Cruyff nicht nur der beste und einflussreichste Spieler, Trainer und fußballerische Vordenker Europas ist, sondern auch der Begründer eines sportlichen Glaubens.
Denken Sie mal darüber nach: Seine Initialen sind JC; er stammte aus einem jüdisch geprägten Umfeld (Ajax), vollführte zahlreiche Wunder auf dem Platz (falls Sie mir nicht glauben, sollten Sie sich seine Videos auf Youtube anschauen), und seine Ideen verbreiteten sich über den gesamten Mittelmeerraum. Wie der holländische Autor Arthur van den Boogard schrieb, brachte Cruyff für ein Problem des Fußballs eine „metaphysische Lösung“ hervor: Setze man die Cruyffsche Spielweise mit hinreichend begabten Spielern richtig um, sei sie kaum zu schlagen.
Große Lehrer regen uns zum Denken an. Über manche von Cruyffs rätselhaften Äußerungen zerbrachen sich die Holländer schon immer die Köpfe: „Jeder Nachteil hat seine Vorteile.“ – „Hätte ich gewollt, dass Sie es verstehen, hätte ich es besser erklärt.“ – „In gewisser Weise bin ich vermutlich unsterblich.“
Zahllose Spieler und Trainer zählen zu seinen Bewunderern und Jüngern, wie etwa der Däne Jan Molby, der eine Saison an der Seite von Cruyff bei Ajax spielte und nach seinem Wechsel zum FC Liverpool ihm zu Ehren die Nummer 14 trug.
„Cruyff ist ein Halbgott, vielleicht sogar ein ganzer Gott“
2011 übernahm Cruyff mit einer Gruppe ehemaliger Spieler, darunter Wim Jonk und Dennis Bergkamp, das Kommando bei Ajax. Cruyff sagte, dass im Nachwuchsbereich des Klubs in letzter Zeit einiges schief gelaufen sei, denn er bringe keine Genies mehr hervor. Alles, sagte er, würde sich ändern müssen. Es ist verlockend, dies als Cruyffsche Variante der Tempelreinigung zu lesen. Vereinspräsident Uri Coronel, der wenig später seinen Rücktritt einreichte, bemerkte verbittert: „Bei diesem Klub ist Cruyff ein Halbgott, vielleicht sogar ein ganzer Gott.“ Es war als Schmähung gedacht, aber die Vorstellung, dass eine höhere Macht im Spiel ist, prägt die Geschichte Cruyffs und aller, die er beeinflusst hat. Pep Guardiola erläuterte die Ursprünge des Tiki-Taka einmal so: „Cruyff baute die Kathedrale. Wir halten sie nur instand.“
Anfang der Siebziger, als Cruyff und Ajax im Zenit ihres Könnens standen, lautete das außenpolitische Credo des Landes offiziell „Nederland gidsland“ („Niederlande Führungsland“). Die Holländer, ganz beseelt von ihrer Tugendhaftigkeit, schickten sich an, anderen Nationen zu zeigen, wie man sich zu benehmen habe. Was sie der Welt beibrachten, war, wie man Fußball spielt. Cruyff war der Lehrmeister.
Das fußballerischen Ideal hieß Totaalvoetbal
Sein Glaube an seine Vision war stets unerschütterlich. Als er mit 17 Jahren bei Ajax zu spielen begann, nervte er seine Kollegen damit, ihnen vorzuschreiben, was sie zu tun hätten. Sie erkannten jedoch bald, dass er Recht hatte – und wurden zu seinen ersten Jüngern. Später wurde der Totaalvoetbal, den er verkörperte und propagierte, zum fußballerischen Ideal auf der ganzen Welt.
Cruyff insistierte auf Angriffsfußball. Seiner Ansicht nach geht es beim Spiel nicht ums bloße Gewinnen, sondern um Freude und Begeisterung, insbesondere der Art, wie sie überragende Kreativspieler zu erzeugen in der Lage sind. Er schätzt technische Virtuosität und Originalität. Der entscheidende Faktor ist vielleicht, dass er das Spiel als räumlichen Wettbewerb betrachtet. Passspiel und Bewegung sind nicht um ihrer selbst willen wichtig, sondern als eine Methode, Räume zu schaffen und zu nutzen, während sie zugleich dem Gegner vorenthalten werden.
Dank Cruyff ist diese Philosophie heute fester Bestandteil des holländischen und spanischen Fußballs. Auch der deutsche ist davon in zunehmendem Maße geprägt: Guardiolas Bayern sind davon ebenso durchdrungen wie die Mannschaft, die im Sommer in Brasilien Weltmeister wurde.
Das Problem ist allerdings, dass der Cruyffsche Fußball, ebenso wie das rechtschaffene christliche Leben, viel leichter erklärt als umzusetzen ist. Er bleibt ein Ideal und damit meistens außer Reichweite. Ebenso herrscht Uneinigkeit über seine Entstehungsgeschichte. Rinus Michels, von der FIFA zum „Trainer des Jahrhunderts“ gekürt, war das organisatorische Genie und in der relevanten Zeit Coach von Ajax und auch der Elftal. Er etablierte das taktische System. Aber Cruyff war es, der die Maschine in Gang brachte und über Jahrzehnte am Laufen hielt. Das zeigt die außergewöhnliche Zahl der Europacupsieger, die er als Spieler und Trainer betreute und nachhaltig prägte.
Ab 1971 führte er eine mitreißende Ajax-Mannschaft zu drei Europapokal-Triumphen in Folge. Ihre Überlegenheit war so groß, dass Juventus sich im Finale von 1973 damit begnügte, ein 0:1 über die Zeit zu bringen. Wäre Cruyff in Amsterdam geblieben, hätte Ajax vielleicht sogar Real Madrids Rekord von fünf Titeln in Serie brechen können. Aber manchen seiner Teamkollegen ging seine dominante Persönlichkeit gegen den Strich, sie wählten ihn als Kapitän ab. Cruyff fasste dies als persönliche Beleidigung auf und vollzog den schicksalhaften Wechsel zum FC Barcelona.
Drei Schlüsselspieler: Gullit, van Basten, Rijkaard
Mit Barça gewann er auf Anhieb die Meisterschaft und verpasste nur knapp den Einzug ins Europapokalfinale von 1975. Seine späteren Verdienste waren aber noch weitaus tiefgreifender: Als die achtziger Jahre anbrachen, brauchte er nicht einmal mehr physisch anwesend zu sein, um die Fußballwelt zu erschüttern. Als junger Mann war Arrigo Sacchi mit seinem Vater, einem Schuhverkäufer, nach Amsterdam gereist. Während sein alter Herr auf Messen im RAI weilte, nahm Arrigo die Tram nach Middenweg, um das goldene Ajax trainieren zu sehen. Später nutzte er die Erkenntnisse, die er dort gewonnen hatte, um den famosen AC Mailand zu bauen, der 1989 und 1990 den Europapokal gewann. Seine drei Schlüsselspieler waren die drei damals besten Fußballer Europas, Cruyffs Schützlinge Ruud Gullit, Marco van Basten und Frank Rijkaard.
Und hätte der FC Barcelona ohne Cruyff jemals den Europapokal gewonnen? Vermutlich nicht. Als Barças Trainer in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren baute er den Klub nach seinen Vorstellungen um und ebnete den Weg für jeden der ersten vier Europacupsiege der Katalanen. 1992 setzte sich sein „Dream Team“ um Stoitschkow, Koeman und Guardiola im Finale gegen Sampdoria Genua durch. Die Mannschaft hatte großen Anteil daran, die spanische Fußballkultur zu verändern: Die charakteristische beinharte Defensivspielweise wich allmählich dem Ideal des schönen Angriffsfußballs, wie wir ihn heute kennen.
Xavi, Iniesta, Messi: eine Iteration des Cruyffschen Fußballs
In den Nullerjahren fungierte Cruyff, der sich inzwischen aufgrund von Herzproblemen aus dem Trainergeschäft zurückgezogen hatte, als Barcelonas graue Eminenz und wählte Frank Rijkaard als neuen Trainer aus. Rijkaard baute um Ronaldinho eine Mannschaft auf, die 2006 die Champions League gewann. Mit Pep Guardiola wurde Rijkaard von einem weiteren Cruyff-Protegé beerbt, der die gut geölte Kurzpassmaschine um Xavi, Iniesta und Messi formte, eine Iteration des Cruyffschen Fußballs, die das vielleichte beste Team in der Geschichte des Sports hervorbrachte: ein schillerndes, alles überragendes Kollektiv, das die Champions League 2009 und 2011 gewann und Philosophie, Spielweise und einen Großteil der Spieler der fast unbesiegbaren spanischen Mannschaft von 2008, 2010 und 2012 stellte.
Daheim in Holland hatte Cruyff unterdessen die zweite große Spielergeneration der Niederländer betreut, die das Herzstück der Mannschaft bildete, die 1988 Europameister wurde, und eine dritte nachhaltig beeinflusst. Die Elftal waren bei der WM 1998 und der EM 2000 die wohl beste Mannschaft, scheiterten aber jeweils im Halbfinale im Elfmeterschießen. Auch da sind sie ganz dem Geiste ihres Übervaters verpflichtet: Als Spieler hatte er sich nie für Elfmeter interessiert.
Cruyffs Verhältnis zu Louis van Gaal, der mit Ajax 1995 Europapokalsieger wurde, ist kompliziert. Die beiden Männer können sich schlichtweg nicht leiden (warum, weiß niemand so genau), Van Gaal gibt als seinen Mentor grundsätzlich Rinus Michels an. Trotzdem ist die Mannschaft von 1995, so wie alles im modernen holländischen Fußball, ohne Cruyff nicht denkbar. Er hatte die Philosophie des Klubs geprägt und Spieler wie Danny Blind und die De-Boer-Zwillinge entdeckt. Darüber hinaus spielte die Mannschaft eine temporeiche Variante des klassischen Cruyff-Stils mit Außenstürmern, spielendem Torwart, ständigen Attacken und klugem Positionsspiel.
Insgesamt hatte Johan Cruyff also bei nicht weniger als zehn Europacuptriumphen seine Hände im Spiel. Keine andere Figur in der Geschichte dieses Wettbewerbs kommt an diese Leistung auch nur annähernd heran. Und dabei sind zahllose andere Teams und Individuen, die Cruyff beeinflusst hat, noch gar nicht berücksichtigt. Dazu gehört Arsène Wengers unbezwingbare Arsenal-Elf, die „Invincibles“, die um das Jahr 2004 den vielleicht schönsten Fußball spielte, der je von einer englischen Mannschaft zu sehen war, oder auch das wunderbare „Danish Dynamite“ der achtziger Jahre.
Auch bei der WM 2010 spielten drei der Semifinalisten – Spanien, Holland und Deutschland – im Wesentlichen einen Stil Cruyffscher Prägung. Das Turnier wurde von der wohl holländischsten der drei Mannschaften gewonnen. Verwirrenderweise trug sie rot und sprach Spanisch.
2014 war Van Gaal Trainer der Elftal, aber die taktischen Varianten der Mannschaft – die für das Abrücken vom klassischen 4−3−3 vielfach kritisiert wurde – waren dennoch tief verwurzelt in der Cruyffschen Lehre von räumlicher Raffinesse. Das Turnier wurde bekanntlich von Deutschland gewonnen, das sich seit langem vom Kampfgeist zugunsten der Prinzipien des Totaalvoetbal verabschiedet hatte. Der Glaube an JC und seine Lehre scheint sich also weiter zu verbreiten.
„Jede Mannschaft sollte so spielen!“
Auch Belgien, Schottland und Dänemark zählen zum stets größer werdenden Kreis der Nationen, die sich im Jugendbereich an einem eindeutig holländischen Modell orientieren. Selbst in der englischen Premier League wird Johan Cruyffs Einfluss immer spürbarer: Zu Beginn des Jahrtausends formte Arsène Wenger mit Dennis Bergkamp und Thierry Henry den FC Arsenal zu einer Nordlondoner Variante der Ajax-Schule. Inzwischen gibt es sieben Premier-League-Klubs, die nach Cruyffscher Art spielen oder es zumindest versuchen: Arsenal, Tottenham Hotspur (unter Anleitung von Mauricio Pochettino), Van Gaals Manchester United, Brendan Rodgers’ Liverpool, Martinez’ Everton, Ronald Koemans Southampton and Garry Monks Swansea City – wobei Monk an die Prinzipien anknüpft, die von Rodgers etabliert und dann von einem weiteren Jünger Cruyffs, dem Dänen Michael Laudrup, weitergeführt wurden.
Wo wird das alles enden?
Vielleicht hat es kein Ende. Thierry Henry, der Marco van Basten verehrte, Cruyffs Nummer 14 trug und den holländischen Stil bewunderte, erzählte mir: „So muss man Fußball spielen. Jede Mannschaft sollte so spielen!“
Das Christentum entwickelte sich von einer obskuren kleinen Sekte zu einem fast universellen Glauben, der Europa in eine religiöse Monokultur verwandelte.
Das Cruyfftum wird, so scheint es, einen ganz ähnlichen Weg gehen.
Der Text erschien erstmals 2015 in unserem SPEZIAL „Königsklasse – Die Geschichte der Champions League“.