N’Golo Kanté ist ein Mann der Superlative: Er bestreitet die meisten Zweikämpfe, läuft die meisten Strecken, fängt die meisten Bälle ab. In England nennen sie ihn deswegen „Hautausschlag“.
Schließlich gibt Ranierei nach. Acht Millionen Euro kostet der Spieler. Viel Geld, zumindest für einen Mann, den bis dahin kaum jemand kannte. Etliche Fußballjournalisten, die den neuen Trainer Ranierei eh schon skeptisch beäugen, schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. N’Golo Kanté? Acht Millionen!
Ranieri verpflichtet zwei Wochen später auch Gökhan Inler. Ein Transfer, der wirkt, als wolle seine Kritiker besänftigen. Oder glaubt Ranieri immer noch nicht an Walsh und seine Expertise?
Sieben Monate später spricht niemand mehr über Inler – der Schweizer macht in der Saison 2015/16 gerade mal fünf Spiele –, dafür ist Kanté nun in aller Munde. Auch in England steht er in zahlreichen Defensivstatistiken ganz vorne: Alleine im Monat April bestreitet er 149 Zweikämpfe. Saisonrekord.
Der kleine und unscheinbare Passgeber
In jenen Tagen bestreitet Kanté sein erstes Länderspiel für Frankreich. Und auch in der L’Equipe Tricolore ist er keiner, der sich durch spektakuläre Aktionen in Szene spielt. Er spielt taktisch clever und aggressiv im Pressing, ein kompakter und dauernervender Box-to-Box-Spieler. Einer, der immer anspielbar ist, der überall dort ist, wo der Gegner gerade steht. Der den kleinen und unscheinbaren Pass dem großen Spektakel vorzieht.
So ist es auch im EM-Eröffnungsspiel gegen Rumänien. In der 88. Minute schiebt Kanté den Ball nur ein paar Meter weiter zu Dimtri Payet. Es ist ein Pass, den, zumindest in der Theorie, jeder Fußballer spielen kann. Aber tun sie das auch?
Zudem ist es einer von diesen Pässen, der seine volle Pracht erst in den Sekunden danach entfaltet, als Payet einen Schritt in die Mitte macht und schießt – 2:1.
Später ist der West-Ham-Stürmer der gefeierte Held des Spiels. Über Kanté, diesen Arbeiter im Mittelfeld, spricht kaum jemand. Dabei hat er wieder die meisten Zweikämpfe bestritten, die meisten Bälle abgefangen, ist die meisten Kilometer gelaufen. Er ist wieder mal der Mann der Superlative.
„Steve, höre nie wieder auf mich“
Wo Claudio Ranieri das Spiel geschaut hat, ist nicht überliefert. Er hat die letzten Wochen in seiner Heimatstadt Rom verbracht. Vielleicht sitzt er bei der EM-Eröffnung er mit seiner Frau in seiner Lieblings-Trattoria vor dem Fernseher, in Gedanken noch immer bei dieser verrückten Saison mit Leicester. Bei Steve Walsh, der immer und immer wieder vor ihm stand, mit den Statistiken und Laufwegen Kantés, der ihn förmlich anflehte, bis Ranieri schließlich einem Transfer zustimmte.
Vielleicht denkt er in jener 88. Minute auch noch mal an den Tag, als er Walsh beiseite nahm und sich entschuldigte. Weil er ihm nicht glauben wollte, wie gut Kanté wirklich ist. An den Tag, als er sagte: „Steve, höre nie wieder auf mich. Ich weiß nicht, wovon ich rede.“