Anfangs skeptisch beäugt, mittlerweile etabliert: Dieser Tage feiert der vierte Offizielle seinen zehnjährigen Geburtstag. Ein Rückblick auf den ersten Einsatz.
Als Hellmut Krug im Juli 1994 aus Amerika heimkehrte, war er guter Dinge. Er hatte einige Erkenntnisse über die moderne Schiedsrichterarbeit mitgenommen. Die Unparteiischen waren bei der WM zum Beispiel angehalten worden, Grätschen von hinten rigoros zu ahnden, was sie auch taten. Außerdem gefiel ihm der unmittelbare Verletzten-Transport, denn so wälzten sich Spieler nach vermeintlich brutalen Fouls nicht mehr minutenlang am Boden. Zum Beweis hatte die Fifa sogar die Nettospielzeit bei den WM-Partien gemessen und voller Stolz verkündet, dass ein Spiel im Schnitt fünf bis sechs Minuten länger lief.
Eine Sache aber fand Krug überflüssig: Den vierten Schiedsrichter. „Ich halte den Ersatzschiedsrichter nicht für notwendig“, sagte er in einem Interview mit der „Sportbild“. „In der Bundesliga gibt’s nicht mehr so viele Trainer, die an der Seitenlinie rumspringen. Die wenigen Fälle, die vorkommen, können wir Schiedsrichter selbst regeln.“
Das Kartenfestival von Dortmund
Er irrte sich, denn in den kommenden Jahren wurden die Trainer an der Seitenlinie immer unruhiger. Ein Beispiel: Beim Spiel Borussia Dortmund gegen den FC Bayern, Saison 2000/01, zückte Schiedsrichter Hartmut Strampe zehnmal Gelb, einmal Gelb-Rot und zweimal Rot. Damit hatte Strampe gleich zwei Rekorde aufgestellt: 13 Karten in einem Spiel hatte vor ihm noch nie jemand gezeigt. Zehn Karten gegen Spieler einer Mannschaft – in diesem Fall der FC Bayern – auch nicht.
Man muss die Partie nicht gesehen haben, um zu wissen, dass Uli Hoeneß, Ottmar Hitzfeld und Michael Henke an der Seitenlinie während der Entscheidungen keine Yoga-Übungen machten. Noch Minuten nach dem Spiel brüllte Hoeneß, Kopffarbe burgunderrot, durch die Gänge: „Ich habe noch nie eine Partie gesehen, in der ein Schiedsrichter von der ersten bis zur 94. Minute so viele Fehler gemacht hat. Der DFB sollte sich überlegen, ob er Herrn Strampe nicht mal eine Zeitlang aus dem Verkehr zieht.“
Strampe wurde nicht aus dem Verkehr gezogen. Dafür entschied der DFB 2002, dass ab Januar 2003 ein vierter Schiedsrichter an der Seitenlinie postiert wird. Einer, der die tobenden Trainer und Funktionäre an der Linie im Zaum hält und als Mann an ihrer Seite sowie bei möglichen Konflikten als Mediator agiert. Ganz so wie es bei internationalen Spielen und im DFB-Pokalfinale schon der Fall war. Für die Bundesliga sollte es ein Pilotprojekt sein. Die Kosten trugen DFB und DFL. Sie beliefen sich auf 1500 Euro pro Spiel. In einer kompletten Saison kamen so 470.000 Euro zusammen – zuzüglich Reisekosten. Diese wurden zwar auch diskutiert, doch anfangs stand eine viel essenziellere Frage im Raum: Was ziehen wir eigentlich an?
Hoeneß: „Das Kommentieren jeder Entscheidung muss aufhören“
Nach etlichen Vorschlägen entschied Obmann Eugen Strigel: Offizielle Trainingsjacke mit der Rückenaufschrift „Deutschland“. Danach herrschte nichts als Vorfreude, denn unverhofft gab es schon vor dem ersten Spiel Lob von allen Seiten. Schiedsrichter Michael Weiner jubelte etwa: „Das Theater an der Linie hat alle abgelenkt, jetzt können wir uns endlich wieder auf das Spielgeschehen konzentrieren.“ Und Herbert Fandel fand: „Wenn es da zivilisierter zugeht, können wir ruhiger arbeiten.“ Sogar Uli Hoeneß stimmte versöhnliche Worte an: „Das permanente Kommentieren jeder Entscheidung muss einfach aufhören. Da hilft der vierte Mann!“
Nur Peter Pacult konnte wenig mit dem vierten Mann anfangen. „Ich brauch den eigentlich nicht. Ich bin eh ein ruhiger Typ“, sagte der Trainer von 1860 München. Und Professor Ralf Rangnick, man ahnt es, machte gleich Verbesserungsvorschläge. „Eigentlich müsste dieser vierte Mann vor einem Monitor sitzen und die Entscheidungen des Feldschiedsrichters überwachen. Und ich bin sicher, in zehn Jahren wird es so weit sein.“
Seinen ersten Einsatz hatte der vierte Schiedsrichter am 18. Spieltag der Saison 2002/03. Er hieß im DFB-Sprech: Der vierte Offizielle. Im Fußball-Jargon: Der vierte Mann. Man war sich sicher, dass er bei seiner Premiere ordentlich was zu tun bekäme, schließlich versprach jener 25. Januar 2003 einige Brisanz. Da spielte etwa Borussia Mönchengladbach gegen den FC Bayern, da saßen Männer wie Peter Neururer, Peter Pacult, Klaus Toppmöller oder Matthias Sammer auf den Trainerbänken. Alles zusammen: ein explosives Gemisch.
Doch es blieb ruhig. Peter Gagelmann, der die Partie Hertha gegen Dortmund leitete, sagte: „Beide Teams sind international erfahren und waren insofern den vierten Mann an der Linie gewohnt.“ Und Klaus Augenthaler berichtete nach Bochums 2:1‑Sieg gegen den 1. FC Nürnberg von der großen Leere: „Der vierte Mann kam abwechselnd zu mir und Peter Neururer, weil ihm langweilig war.“
Anfangs wirkten sie isoliert
So war es nicht nur in Bochum, sondern auch in Hannover, Bremen oder Kaiserslautern. Die vierten Männer standen da, gingen nach rechts, dann nach links, sie schrieben Dinge in Blöcke und tauschten sich manchmal leise mit dem ersten Schiedsrichter aus. An Headsets war damals noch nicht zu denken. Kurzum: Sie sahen ein wenig aus wie die Neuen in der 6a, das unangenehme Gefühl der tausend Blicke, die auf ihnen lagen. Sie wussten, dass man sie als überflüssig, sonderbar und isoliert ansah. Warum waren sie hier?
Tatsächlich war das Szenario, von dem Augenthaler im süffisanten Unterton berichtet hatte, vorher einige Male diskutiert worden. Die Frage lautete: Wieso bekommt ein Schiedsrichter im extremsten Fall 1500 Euro fürs Nichtstun? Die vierten Männer waren sich dieser Situation natürlich bewusst, und so taten einige von ihnen höchst beschäftigt. Die FAZ veröffentlichte einen Tag nach dem Spiel Kaiserslautern einen Bericht über Burkhard Hufgard, der als vierter Mann einen beschaulichen Fußball-Nachmittag auf dem Betzenberg erlebt hatte.
„Wie diese Bodyguards, die auf den Bundeskanzler aufpassen“
Das liest sich so: Hufgard schaute „mit strengem, drohendem, flackerndem Blick nach links und rechts, wie diese Bodyguards, die auf den Bundeskanzler aufpassen, (…) und als ein Stuttgarter Physiotherapeut bei einem Verletzungsfall dem Spielfeldrand bedrohlich nahe kam, war der Franke umgehend am Einsatzort und verhinderte Schlimmeres“.
Auch deswegen schaute während des Spiels seiner Mannschaft einer besonders verständnislos: Hannovers Mannschaftsbetreuer Peter Neubauer. Der hatte bis dahin 25 Jahre lang die Auswechslungen angezeigt. Das war nun vorbei. Manuel Gräfe, beim Nordderby gegen den HSV vierter Mann, übernahm jetzt seinen Job. „Das ist schon traurig“, sagte Neubauer nach dem Spiel. Doch er wusste sich zu helfen, denn ab da hielt er bei Heimspielen seine eigene Tafel hoch. Mit dieser zeigte er die Torschützen von Hannover 96 an. Fortan nannte man ihn: den Tafelmann.