Ronaldinho war der spektakulärste Spieler der Nullerjahre. Und zeigte unserem Autor einst in nur zwei Sekunden, wie schön Fußball sein kann.
Wir feiern heute die 2000er – das aufregendste Jahrzehnt der Fußballgeschichte! Warum es so aufregend war? Lest ihr in unserer Titelgeschichte aus dem aktuellen Heft.
Es war der 16 Mai 2004, als ich verstand, dass Fußball Kunst ist. Ich besuchte einen Freund in Barcelona, der dort nach unserem Abi ein Praktikum machte, und er hatte uns Karten für das Spiel des FC Barcelona gegen Racing Santander besorgt. So saßen wir in dieser riesenhaften Betonschüssel, tranken ein spanisches Bier, und freuten uns auf Edgar Davids, Patrick Kluivert und auf diesen jungen Brasilianer, von dem in Barcelona seit neuestem alle redeten und mit dessen Namen so auffällig viele Trikots auf dem Weg zum Stadion beflockt gewesen waren.
In diesem Mai 2004 war die Fußballwelt noch eine andere. In Deutschland holte Bremen das Double. Die EM stand an, bei der sich die Deutsche Nationalmannschaft blamieren würde. Messi und Ronaldo waren nicht mehr als Talente. Und auch in Spanien war das Titelrennen gelaufen, der FC Valencia stand als Meister bereits fest. Der ohnehin beschaulichen Stimmung im Camp Nou war dieser Umstand nicht eben zuträglich. Ich wunderte mich über die Leute, die auf ihren Sitzen saßen und gemächlich Sonnenblumenkerne in die Nachmittagssonne spuckten, als säßen sie bei einem Picknick im Park.
Als wäre ein UFO im Mittelkreis gelandet
Nach etwa einer Viertelstunde änderte sich diese Stimmung schlagartig, und sie tat dies auf eine Weise, wie ich es noch nie erlebt hatte. Ronaldinho, dieser junge Brasilianer, von dem ich nicht viel mehr wusste, als dass er eine sehr gute erste Saison bei Barca spielte, ersprintete sich einen viel zu langen Ball an der linken Eckfahne. Niemand war mitgelaufen, nur einige Gegner hatten den Weg zurück gemacht und beobachteten die prinzipiell harmlose Situation gelassen. Eine Situation, die andere Spieler vielleicht mit einem Rückpass auf einen nachrückenden Mitspieler gelöst hätten. Nicht aber Ronaldinho.
Denn Ronaldinho rannte einfach die Grundlinie hoch. Als ihn der erste Gegner attackierte, ließ er ihn im Vollsprint und nur Zentimeter neben der Grundlinie mit einer Bewegung aussteigen, wie ich sie zuvor noch bei keinem Spieler gesehen hatte und die später sein Markenzeichen werden sollte: der Elastico. Das zuvor noch sedierte Operettenpublikum sprang mit einem kollektiven Schrei auf. Auf Höhe des Sechzehners wartete der nächste Gegner, und als Ronaldinho diesen völlig absurden Trick wiederholte, bei dem sein ganzer Körper wirkte, als sei er flüssig und fest zugleich, schrie das Publikum, als wäre ein UFO im Mittelkreis gelandet. Erwachsene Männer, die gerade noch gelangweilt in ihre Sonnenblumenkerntüte gestiert hatten, lagen sich plötzlich in den Armen. Jemand vor uns warf Konfetti. Als mein eigener Schrei verklungen war, merkte ich, dass ich mich an meinem Kumpel festhielt, als würde ich Stabilität benötigen, um wirklich zu glauben, was dieser Magier von Fußballer da gerade gemacht hatte.
Die endgültige Krönung dieses Moments blieb aus, da Ronaldinho vor dem Torabschluss noch gefoult wurde. Den Elfmeter verwandelte er souverän, bevor das Spiel zurück in seinen sommerlich-gemächlichen Trott verfiel. Aber das war egal. Ich hatte etwas Magisches gesehen. Eine Dynamik, eine Technik, eine Genialität, die ich nicht kannte, weil sie nicht in diese Zeit passte. Ich war mir sicher: Niemand zuvor war je so schnell, so trickreich gewesen. Was würde einer wie Christian Wörns gegen einen solchen Spieler ausrichten können? Ein Thorsten Kracht? Ein Ingo Hertzsch? Auch wenn ich das damals allerhöchstens ahnte, aber mit Ronaldinho kippte der Fußball in die Neuzeit. Alles würde schneller werden, dynamischer, größer, spekatkulärer – und dieser dünne Kerl mit den elastischen Beinen führte diese Entwicklung an, dynamisch und wild, wie er die Angriffe des FC Barcelona anführte.
Wie sich rausstellte, war die Partie das letzte Heimspiel Luis Enriques, der groß verabschiedet wurde. Auf dem Nachhauseweg redeten wir trotzdem nicht über Enrique, nicht über Edgar Davis oder Patrick Kluivert. Wir redeten über Ronaldinho, der mir in einer vielleicht zwei Sekunden langen Szene ein Versprechen gegeben hatte: Dass er der beste Fußballer der Welt werden würde.
Als sei der Ball nur eine Verlängerung seines Körpers
Ein Versprechen, das er hielt. In all den Jahren, die folgten, hatte ich stets ein Auge auf Ronaldinho. Allein: Wer hatte das nicht. Seine unfassbaren Tore gegen Villareal oder Chelsea. Standing Ovations im Bernabeu. Diese unglaubliche Dynamik, mit der er durch die gegnerische Spielhälfte raste, immer den Ball am Fuß, als sei dieser lediglich eine Verlängerung seines Körpers, ein Teil von ihm. Und dann diese nie versiegende Spielfreude. Dieser unendliche Fundus an überraschenden Momenten, brillianten Ideen, die immer vorhandene Möglichkeit, dass dieser Mensch gleich etwas tut, was betörend leicht aussieht – und trotzdem den Lauf des Spieles verändert.
Seit mehr als zehn Jahren duellieren sich Lionel Messi und Cristiano Ronaldo um den Titel des besten Spielers der Welt. Wer aber Ronaldinho hat spielen sehen, weiß, dass es da einen gab, der mit beiden auf einer Stufe stand. Mindestens. Vielleicht spielte Ronaldinho nicht so lange auf so hohem Niveau wie Messi oder CR7, aber er tat es. Und das auf eine unverwechselbare Art. Ronaldinho mit Ball am Fuß war in den besten Momenten Kunst. Auch dann noch, als er als leicht übergewichtiger Kicker durch seine inoffiziell eigentlich schon beendete Karriere tourte und bei Kleinstvereinen oder Benefizspielen die Massen unterhielt. Und Dinge dabei zeigte, die die Leute vorher einfach noch nicht kannten und die den Blick des ein oder anderen Zuschauers auf den Fußball für immer verändert haben. Mitunter sogar in nur zwei Sekunden.
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