Seit einem Monat trainiert Thomas Meggle den FC St. Pauli. Gegen seine Berufung gab es keine Einwände auf dem Kiez, der Personalie wurde allseits applaudiert. Viele Fans sehen immer noch den Spieler Meggle. Kann der Trainer Meggle das für sich nutzen?
Beinahe jeden Tag zur Mittagszeit ist in einem gelben Discounter im Hamburger Stadtteil Niendorf ein Mann zu beobachten. Dieser Mann schlappt zur Wurstauslage, greift sich eine Packung Cervelatwurst oder Lyoner, schlappt zur Brötchenklappe, gabelt einige Semmeln in eine Plastiktüte, schlappt zur Kasse. Der Mann grüßt die Kassierer beim Vornamen, bezahlt und schlappt hinaus. Der Mann trägt Trainingsanzug und Badelatschen. Wurst und Brötchen in der Hand, schlappt er hin zu den Rasenplätzen an der Kollaustraße. Der Verein, der hier üben lässt, hat Totenkopffahnen gehisst. Der Mann, der seinen Lunch im Discounter kauft, heißt Thomas Meggle und ist seit einem Monat Trainer des Vereins.
Trainer kommen und gehen, aber beim FC St. Pauli gingen sie zuletzt besonders schnell. Schubert, Frontzeck, Vrabec, 14, 13, 10 Monate. Finanziell hat sich der Klub konsolidiert, personell nicht, nicht an der Seitenlinie. Die Fans sehnen sich nach einer Verlässlichkeit, wie es sie in den erfolgreichen Stanislawski-Jahren gab. Meggle soll beides zurückbringen, den Erfolg und die Verlässlichkeit, Meggle ist ja einer von ihnen. Er ist ein Risiko und er ist eine Chance. Frage: Wer ist eigentlich Thomas Meggle?
Er ist in die Breite gegangen und wirkt dadurch noch kleiner als früher, er versucht das manchmal auszugleichen, indem er sich besonders groß macht. In seiner ersten Partie als Chef pumpte sich Meggle vor Schiedsrichter Robert Kampka auf und rempelte gegen den vierten Offiziellen, der DFB verbannte ihn für zwei Spiele auf die Tribüne. Es gibt bessere Debüts, aber Meggle setzte damit ein Zeichen. Plötzlich hatte das Millerntor wieder einen Trainer, der brannte, innerlich wie nach außen, für seine Mannschaft, das Remis, wenigstens das noch, für den Klub. Roland Vrabec hatte sich zuletzt sehr ratlos in seinen Stuhl gedrückt.
Wie tickt der? Was will der?
Nachdem Vrabec gegangen und Meggle als dessen Nachfolger präsentiert wurde, gab es das branchenübliche Fragenstakkato: Nur Notlösung oder Wunschkandidat? Kommt das nicht zu früh? Wie tickt der? Was will der? Und überhaupt: Kann der das? Rachid Azzouzi, der Manager des FC St. Pauli, beteuerte, man habe mit keinem anderen Kandidaten gesprochen. Meggle sei Wunschkandidat gewesen. Als Referenz reichten die vielen Jahre als Co-Trainer und die Reserve, eigentlich chronisch abstiegsgefährdent, aber von Meggle in der vergangenen Regionalligasaison auf Platz neun gecoacht. Zwölf Zähler vor dem HSV II. Und das auch noch mit gutem Fußball. Dynamo Dresden hatte um Meggle gebuhlt, aber der verlängerte lieber in Hamburg, als Trainer dieser U23, Tage vor der Beförderung. Meggle wollte nicht irgendwo trainieren. Er wollte auf St. Pauli trainieren.
Es geht ihm um, man muss es ja so schreiben: Identifikation.
2010 hat Meggle in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt gesagt: „Man entscheidet sich in seinem Leben irgendwann für einen Verein – und dem bleibt man ein Leben lang treu.“ Wäre der Satz nicht aus seinem Munde gekommen, er hätte sich als Lippenbekenntnis abtun lassen. Als Fansympathienfischerei.
Aber dieser Thomas Meggle hatte sich ja tatsächlich irgendwann entschieden, ach was, eigentlich entschied er sich immer wieder. 22-jährig war er zum FC St. Pauli gewechselt, als unbekannter Bayer in den hohen Norden, angeworben vom knurrigen Uli Maslo. Und er trug mit Unterbrechungen bis 2010 das braune Trikot. Meggle wechselte zu 1860 und kehrte zurück, Meggle wechselte zu Hansa Rostock und kehrte zurück. Die Fans verziehen ihm diese Verirrungen, zu gut kam er an und sein unbedingtes Sichzerreißen, sein Humor, sein feines Spiel. Der Regisseur bestritt 174 Partien für den FC St. Pauli. Er traf dreizehnfach zum Aufstieg 2001, er traf für die Weltpokalsiegerbesieger, sein Karrierefinale veredelte er sich unter Holger Stanislawski mit den Aufstiegen in die zweite und die erste Liga. 35-jährig trat Meggle ab, und knieverletzt. Die Fans wählten ihn sofort in ihre Jahrhundertelf.
„Heute ist kein Tag für Witze“
Mittlerweile ist Meggle 39 Jahre alt, aber sie rufen ihn immer noch Meggi, gesprochen: Mäggi, seiner bedachten, bärigen Art wegen. Es ist ein Kosename, der liebevoll gemeint sein soll, aber als Trainer braucht man auch Autorität. Bei seiner Begrüßungspressekonferenz sagte Meggle deshalb: „Heute ist kein Tag für Witze.“
Wer Meggle während einer Trainingeinheit beobachtet, sieht ihm immer noch den Lehrling an, der er über Jahre gewesen ist. Übungen erklärt er eifrig, häufig ruft er: „Perfektion, Leute! Perfektion!“ Meggle muss in seine Zweitligacheftrainerrolle hineinwachsen. Er muss einen Kompromiss moderieren aus Ernst und Witz, aus dieser ihm eigenen Ironie und der tabellensituationsgebotenen Seriösität. Es gibt grandiose Interviews von Meggle aus der Zeit, als Sport 1 noch DSF war und der Kiezklub nicht nur Kult, sondern auch pleite; Interviews, in denen die blödfragenden Feldreporter gar nicht merken, dass Meggle sie vorführt. Als Trainer verzichtet Meggle bisher auf diesen Stil, er zensiert sich. Im Abstiegskampf wird nicht geflachst, Ironie schießt keine Tore. Wenn, nein, falls der FC St. Pauli in der Tabelle steigt, steigt vielleicht auch die Humortoleranz bei Thomas Meggle. Im Moment braucht er keine Lacher, er braucht Punkte.
Zweitbester in Hennef
Thomas Meggle ist auf der Bank zwar emotional, aber trotzdem kein Lautsprecher. Bei Ansagen im Training leiert seine Stimme, auch das ist zu beobachten. Er hat seinen bayerischen Akzent abgelegt, aber nicht diese süddeutsche Gediegenheit bei der Satzbildung. Meggles Autorität ensteht erstmal über seinen Stallgeruch und über ausgewiesene Expertise. Meggle lebt und liebt St. Pauli, seine Spieler wissen das. Den Trainerlehrgang in Hennef schloss er als Zweitbester ab. Auch das wissen seine Spieler.
Sie haben die ersten zwei Begegnungen unter seiner Regie verloren, sich gegen Braunschweig zum Sieg gekämpft und in Frankfurt in letzter Minute ein Remis geholt. Man könnte sagen: Es ist ein Anfang gemacht. Nach der Trainingseinheit an jenem Donnerstag bleibt Meggle noch auf dem Rasen stehen, um Okan Kurt und Andrej Statsev beim Flankenschlagen zu beobachten, zwei Junioren, die er in die Startelf gehievt hat. Er plauscht mit einem Rentner, schüttelt ein paar Hände und will dann, danach gefragt, was er sich von Stanislawski, Schubert und Fronzteck abgeschaut hat, nicht so richtig raus mit der Sprache. Nichts Explizites, antwortet er schließlich. Thomas Meggle will sich nicht mehr über andere definieren, Thomas Meggle ist kein Lehrling mehr. Thomas Meggle ist jetzt Chef.