Jorginho, der Mittelfeldspieler der Squadra Azzurra, ist das genaue Gegenteil von spektakulär. Und doch lässt er Italien vom ersten EM-Titel seit 1968 träumen.
Dass Italien seit mittlerweile 33 Partien ungeschlagen ist und nur drei Jahre nach der verpassten WM eine überragende Europameisterschaft spielt, hat viel mit Jorginho zu tun. Mit 72,3 Kilometern ist er am zweitmeisten gelaufen bei dieser EM, nur zwei Spieler haben mehr Bälle erobert, und unter den Mittelfeldspielern mit ähnlich vielen Ballaktionen hat nur Spaniens Pedri eine bessere Passquote. „Er lässt alles sehr leicht aussehen. Er ist unersetzlich für diese Mannschaft“, sagt sein Mitspieler Marco Verratti.
Der Weg zum nun gefeierten Regisseur der Nationalmannschaft, den die italienischen Medien schon als Kandidaten für die Wahl zum Weltfußballer ins Gespräch bringen, war lang. Erst nachdem Roberto Mancini 2018 mit dem Neuaufbau betraut worden war, hat Jorginho in der Squadra Azzurra einen festen Platz – und ist schnell zu ihrem Schlüsselspieler geworden.
Dass Jorginho ausgerechnet unter Mancini seinen Durchbruch geschafft hat, entbehrt nicht einer gewissen Komik. 2015 sagte Mancini, damals noch als Trainer von Inter Mailand: „Ein italienischer Spieler verdient es, in der Nationalmannschaft zu spielen, während diejenigen, die nicht in Italien geboren wurden – auch wenn sie italienische Vorfahren haben –, es nicht verdienen.“
Mittlerweile debattiert darüber in Italien aber niemand mehr. Zu märchenhaft ist die Geschichte von dem jungen Brasilianer mit dem italienischen Ur-Ur-Großvater, der auf der Suche nach dem großen Fußballglück schon mit 15 Jahren nach Verona zieht und anfangs zusammen mit fünf anderen Jungs in einem Kloster wohnt. Nur 20 Euro Taschengeld soll Jorginho bekommen haben, lange sah es nicht nach der großen Profikarriere aus. Zu schwach sei er, zu langsam, zu wenig torgefährlich.
Noch vor zwei Jahren kritisierte ihn der ehemalige englische Nationalspieler Rio Ferdinand. „Wie viele Assists hat er diese Saison? Rund 2000 Pässe, aber keine Vorlage“, sagte der TV-Experte. An sonderlich vielen Toren ist Jorginho auch heute nicht beteiligt, die meisten Kritiker sind dennoch verstummt.
Der Artikel erscheint im Rahmen unserer Kooperation mit dem Berliner Tagesspiegel.