Am 20.05.2000 braucht Bayer Leverkusen nur noch einen einzigen Punkt in Unterhaching, um die erste Meisterschaft der Vereinsgeschichte einzutüten. Und um die Bayern endlich in die Schranken zu weisen. Formsache für eine Mannschaft, die seit Monaten nicht verloren hat. Oder? Protokoll einer denkwürdigen Meisterschaft.
20.05.2000, 15:05 Uhr, Sportpark Unterhaching
Jetzt spricht Christoph Daum. Er steht in einem kastenförmigen Trainingsanzug neben Lorenz-Günther Köstner, der vor fünf Jahren in Stuttgart noch sein Co-Trainer war, und Reporter Thurn und Taxis auf dem nassen Rasen. Er spricht live zu Millionen von Fernsehzuschauern und dem aus München zugeschalteten Ottmar Hitzfeld. Eine Prise zu gönnerhaft sagt er zu Hitzfeld: „Die internationalen Auftritte waren hervorragend, den Pokal habt ihr ganz souverän geholt, und bis zum Schluss in der Meisterschaft dabei zu sein, das ist großartig. Ich möchte dem Ottmar eigentlich jetzt schon gratulieren, für mich ist er der Trainer der Saison.“ Beide müssen grinsen. Dann antwortet Hitzfeld. Zehn Prozent, und das auch nur vielleicht, größer sei die Chance auf die Meisterschaft für seine Mannschaft nicht.
20.05.2000, 15:15 Uhr, Sportpark Unterhaching
Letzte Anweisungen in der Kabine der SpVgg Unterhaching. So wie erwartet lässt Christoph Daum den eigentlich an den Bändern verletzten Emerson an Stelle von Carsten Ramelow auflaufen, Paulo Rink sitzt auf der Bank. Lorenz-Günther Köstner wendet sich an seine Außenbahnspieler Oliver Straube und Marco Haber. Sie sollen die Leverkusener Flanken verhindern. Bei Innenverteidiger Jan Seifert wird er drastisch: „Wehe, der Ballack macht heut’ ein Kopfballtor.” Seifert nickt.
20.05.2000, 15:22 Uhr, Olympiastadion München
Kommentator Tom Bayer meldet sich für Premiere aus dem Olympiastadion: „Meine Damen und Herren: Riesen Stimmung hier, und es soll ja auch eine Spontan-Fete um 17:15 Uhr geben. Spontan deswegen, weil eigentlich kaum noch einer damit rechnet, dass die Bayern das noch packen können mit der Meisterschaft.“ Aber, so Bayer, ausgerechnet Bayer: „Man weiß ja nie nie.“
„Wir wollten Leverkusen einen Fight bieten“
20.05.2000, 15:28 Uhr, Sportpark Unterhaching
Während die Spieler einlaufen, Unterhaching in rot und blau, Leverkusen ganz in weiß und in Trikots, in die sie problemlos zweimal hineinpassen würden, liest Marcel Reif die Aufstellungen vor. Diese elf Männer sollen in knapp zwei Stunden endlich Meister sein: Matysek, Kovac, Nowotny, Zivkovic, Emerson, Beinlich, Ballack, Schneider, Zé Roberto, Neuville, Kirsten. Dann stellt der Star-Kommentator noch mal sicher, dass auch alle Fernsehzuschauer verstehen, was hier auf dem Spiel steht: „Ein Sieg wäre der wichtigste in der Geschichte von Bayer Leverkusen. Eine Niederlage wahrscheinlich die schlimmste. Noch schlimmer ist die Tatsache: Bayer reicht ein Unentschieden. Bloß: Wie spielt man auf Unentschieden? Das weiß selbst Christoph Daum nicht.“ Und damit hat Reif sogar recht. Zumindest laut Stefan Beinlich: „Wir wollten auf Sieg spielen, das war ganz klar die Ansage in der Kabine. Nicht nach dem Motto: Ein Punkt reicht uns. Klar, wir hätten auch sagen können: Kommt Leute, wir mauern jetzt und gucken mal, ob sich Unterhaching Chancen erarbeitet. Aber wir hatten ja eine komplett andere Spielauffassung. Wir wollten Tore schießen. Und damit hatten wir das ganze bisherige Jahr auch Erfolg gehabt.“ Auf die Hachinger macht der Tabellenführer einen souveränen Eindruck. „Wir haben uns vorgenommen, das letzte Spiel zu genießen, aber Deutschland auch zu beweisen, dass wir zurecht in der ersten Liga sind”, sagt Schwarz. „Wir wollten Leverkusen einen Fight bieten.“ Schwarz wird zum letzten Mal in dieser Saison auf einen Spielmacher angesetzt. Heute soll er Michael Ballack ausschalten.
Die Spieler haben sich mittlerweile auf dem Platz aufgereiht, vor ihnen die Einlaufkinder, hinter ihnen hunderte rote und blaue Luftballons. Manche lächeln und winken, die meisten schauen konzentriert. Oder angespannt? Kapitän Jens Nowotny gewinnt jedenfalls die Seitenwahl. Er spricht sich kurz mit Torwart Matysek ab, dann zeigt er auf das gegenüberliegende Tor. Erst mal mit der Sonne. So kann es doch weitergehen.
20.05.2000 Uhr, 15:32 Uhr, Olympiastadion München
In München rollt der Ball. Und quasi mit Anpfiff bricht im Olympiastadion Jubel aus. Markus Babbel hat in seinem letzten Spiel für die Bayern auf den zweiten Pfosten geflankt. Und dort steht Carsten Jancker völlig blank. „Ich musste ihn nur einnicken.“ 1:0 Bayern. Nach zwei Minuten.
20.05.2000 Uhr, 15:34 Uhr, Sportpark Unterhaching
Auch im Sportpark wird es erstmals richtig laut, denn auf der Anzeigetafel wird das Zwischenergebnis aus München eingeblendet. Dazu scheppert kurz DJ Ötzis „Anton aus Tirol“ aus den Stadionboxen, der Song also, der eigentlich im Münchner Olympiastadion bei Toren des FC Bayern läuft. Neutral ist anders. Der Gästeblock ächzt, der Rest jubelt. Fortan wird jeder gewonnene Zweikampf von Unterhaching frenetisch beklatscht, wenn einer der Befreiungsschläge, mit denen der flinke Jochen Seitz gemeint sein könnte, die er aber nie erreicht, auch nur in dessen Nähe landet, knistert die Luft. Aber: Noch ist ja nicht wirklich etwas passiert. Noch hat Leverkusen einen Punkt Vorsprung. Noch haben die Stars alle Zeit der Welt, ihr eigenes Spiel zu gewinnen. Auch Calmund ist noch immer die Ruhe selbst: „Wir haben damit gerechnet, dass die Bayern gegen Bremen ihre Aufgabe souverän erledigen werden. Von Bremen war nicht mehr viel zu erwarten, die steckten im bedeutungslosen Tabellenmittelfeld.“
20.05.2000 Uhr, 15:41 Uhr, Sportpark Unterhaching
Ballack hebt den Ball von der linken Seite weich in den Strafraum, Kirsten verlängert per Kopf – und Oliver Neuville rauscht am zweiten Pfosten nur Zentimeter am Ball vorbei. Die erste Großchance. Von vielen, da kann man sich ziemlich sicher sein. Man muss ja nur auf die Zahlen schauen, im Prinzip ist das einfache Statistik. Kirsten hat schon 17 Tore geschossen, Beinlich elf und acht vorbereitet, Zé Roberto kommt auf 15 Scorerpunkte, Neuville und Emerson auf 14, Paolo Rink auf 13. Irgendwer wird da heute schon noch zuschlagen.
20.05.2000 Uhr, 15:43 Uhr, Olympiastadion München
Zuschlagen tut aber zunächst mal Carsten Jancker. „Liza auf Paulo, der an die Latte – und ich musste den Ball nur noch einnicken. Schon wieder.“ So klingt es, wenn man seinen Job erledigt. Wobei das, was die Münchner, was Bixente Lizarazu, Paulo Sergio und Carsten Jancker da machen, immer weniger nach Arbeit und immer mehr nach Spaß aussieht. Nach dem Tor feiern Sergio und Jancker ausgelassen mit einem einstudierten Handshake, auch der Jubel der Zuschauer wirkt weniger bissig und deutlich gelöster. 2:0. Jetzt muss nur noch Unterhaching liefern.