Im Sommer 2013 führte die Besiktas-Fangruppe Carsi die Proteste im Istanbuler Gezi-Park an. Nun müssen ihre Mitglieder mit Haftstrafen rechnen – und setzen den friedlichen Widerstand in den Stadien fort.
Die Gruppe wird plötzlich unruhig. „Wir müssen los!“, heißt es. „Nach Taksim!“ Dorthin, wo alles begann. Die paar Männer mittleren Alters eilen durch die Straßen von Beşiktaş, in jeder zweiten Straße Schuttlöcher oder Kräne. Das zentrale Istanbul auf der europäischen Seite ist eine einzige große Baustelle. Erdoğan schmückt sich gerne damit, denn der Prozess von Abriss und Neubau bedeutet für ihn Fortschritt und wirtschaftliche Stabilität.
Dabei sind die Projekte in den Händen von ein paar ausgewählten Baufirmen, die viele langjährige Bewohner zur Aufgabe ihrer Wohnungen drängen. Kurz vor dem Taksim-Platz passiert die Gruppe Bürogebäude und Wohnhäuser, beinahe jedes ist im unteren Teil mit grauer Farbe überstrichen. Doch wenn man genau hinsieht, erkennt man darunter noch die Graffiti der Gezi-Bewegung. Auf einer Wand prangt das Symbol von Çarşı, das „A“ als Anarchiezeichen stilisiert. Und auf den Fußweg hat jemand gesprüht: „Pfefferspray ist das Parfüm des Jahres.“
Bedrohter Schriftsteller
Während des Marsches in die Istiklal Straße, die große Fußgängerzone von Taksim, wird die Gruppe stetig größer, irgendwann sind mehr als 20 Leute dabei. Vor einer Buchhandlung bleiben sie plötzlich stehen und beginnen zu singen. Ein Mann, der hinter einem kleinen Tisch sitzt, steht auf und singt mit. Es ist Emrah Serbes, 32, ein berühmter türkischer Schriftsteller. Er schreibt hier heute Autogramme, und vor seinem Tisch hat sich eine hundert Meter lange Schlange seiner Leser gebildet. Serbes hat vor einiger Zeit auch das Drehbuch zur TV-Serie „Behzat Ç.“ verfasst.
Darin geht es um einen Polizisten, der nicht ins Bild der Erdoğan-Gefolgsleute passt: Er trägt schulterlange Haare, trinkt Bier und hat gelegentlich eine Affäre. Ein cooler Typ – aber eben kein Vorzeigepolizist. Serbes wurde in den vergangenen Monaten immer wieder bedroht, von Polizisten oder von Erdoğan-Anhängern. Cem kennt seine Situation, und deswegen setzt sich der Abi nun neben seinen kleinen Bruder, wie ein Schutzpatron. Schließlich legt er ihm einen Çarşı-Schal um, denn auch Serbes ist Mitglied. Die Menge applaudiert. Cem lächelt.
Pfefferspray ist das Parfüm des Jahres!
Es gibt viele Gezi-Bilder, die um die Welt gingen. Zum Beispiel das eines Jungen, der vor einer Polizeihundertschaft auf der Straße kniet und die türkische Fahne hochstreckt. Oder das der Frau im roten Kleid, die von einem Polizisten aus nächster Nähe mit einer Tränengaspistole attackiert wird. Drei Tage nach Beginn der Proteste sorgte auch ein Foto für Aufsehen, das drei Fußballfans zeigt, einen von Galatasaray, einen von Fenerbahçe und einen von Beşiktaş. Sie stehen gemeinsam auf der Bosporusbrücke, und über dem Bild prangt der Slogan: „Tayyip, do you know: Istanbul United“. Dazwischen klemmt ein Logo, das die Wappen aller drei Klubs vereint.
„Istanbul United“ verbreitete sich rasend schnell über die sozialen Netzwerke, und Erdoğan sah sich von den Fußballfans so weit in die Defensive gedrängt, dass er sich bei einer Veranstaltung vor einer Çarşı-Flagge postierte. Es sollte so aussehen, als habe die Regierung die vermeintlichen Unruhestifter auf ihre Seite gebracht. Allein, die Flagge war nicht echt. Um es sich mit seinen eigentlichen Anhängern nicht zu verscherzen, hatte Erdoğan das Anarchiezeichen aus dem Çarşı-Logo entfernt.
Dennoch blieb eine der spannendsten Fragen, wie sich dieses Gemeinschaftsgefühl des Sommers auf die neue Saison übertragen ließe.
Am Samstagabend spielt Fenerbahçe gegen Sivasspor. Vor dem Stadion wartet Murat Yilan. Ein schmaler Typ mit Lockenkopf, 24 Jahre alt, er spricht rasend schnell. Murat ist Fenerbahçe-Fan, seine Gruppe nennt sich Sol Açık, was so viel wie „Linksaußen“ bedeutet. Murat ist Kommunist und kann sich mit der United-Idee anfreunden. Er, der Fenerbahçe-Fan, sagt tatsächlich: „Çarşı ist in meinem Herzen.“ Er blickt sich ein paar Mal ängstlich um. Er fürchtet Ärger – von anderen Fenerbahçe-Fans.
34. Minute: Taksim-Rufe und Pfiffe gleichzeitig
Im Gegensatz zu Beşiktaş sind die Kurven von Fenerbahçe und Galatasaray in politische Blöcke unterteilt. Die wichtigsten Fangruppen der Klubs, GFB und UltrAslan, unterstützen Erdoğan. Führende Mitglieder der Gruppen ließen sich sogar mit Polizisten vor einer Wache ablichten. Ein anderes „Istanbul United“. Viele deuten es als Schulterschluss gegen alle Erdoğan-Gegner. Die Galatasaray-Ultras antworten auf die Frage, was sie von „Istanbul United“ halten, mit Skepsis und Ablehnung. „Es ist ein Mythos“, sagt ein führendes UltrAslan-Mitglied. Ein anderer sagt: „Es ist beschämend.“
Fenerbahçe gewinnt am Abend 4:2. In der 34. Minute sind laute Taksim-Rufe zu hören, aber auch Pfiffe. „Die linken Fangruppen der anderen Klubs sind zu schwach“, glaubt ein Çarşı-Mitglied. Manche fürchten, der Friedensvertrag von 1997 könnte unter den jüngsten Geschehnissen zerbrechen. Einzelne Fan-Gruppen haben deutlich Partei ergriffen, früher ging es lediglich um sozialkritische Statements. Nun aber sieht man auf der einen Seite die Widerständler von Beşiktaş, auf der anderen die Pro-Erdoğan-Gruppen von UltrAslan und GFB. Dazwischen die kleineren Anti-Erdoğan-Gruppen bei Fenerbahçe und Galatasaray. Es ist eine hochexplosive Mischung.