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Seite 3: Was bleibt von „Istanbul United“?

Die Gruppe wird plötz­lich unruhig. Wir müssen los!“, heißt es. Nach Taksim!“ Dorthin, wo alles begann. Die paar Männer mitt­leren Alters eilen durch die Straßen von Beşiktaş, in jeder zweiten Straße Schutt­lö­cher oder Kräne. Das zen­trale Istanbul auf der euro­päi­schen Seite ist eine ein­zige große Bau­stelle. Erdoğan schmückt sich gerne damit, denn der Pro­zess von Abriss und Neubau bedeutet für ihn Fort­schritt und wirt­schaft­liche Sta­bi­lität.

Dabei sind die Pro­jekte in den Händen von ein paar aus­ge­wählten Bau­firmen, die viele lang­jäh­rige Bewohner zur Auf­gabe ihrer Woh­nungen drängen. Kurz vor dem Taksim-Platz pas­siert die Gruppe Büro­ge­bäude und Wohn­häuser, bei­nahe jedes ist im unteren Teil mit grauer Farbe über­stri­chen. Doch wenn man genau hin­sieht, erkennt man dar­unter noch die Graf­fiti der Gezi-Bewe­gung. Auf einer Wand prangt das Symbol von Çarşı, das A“ als Anar­chie­zei­chen sti­li­siert. Und auf den Fußweg hat jemand gesprüht: Pfef­fer­spray ist das Parfüm des Jahres.“

Bedrohter Schrift­steller

Wäh­rend des Mar­sches in die Istiklal Straße, die große Fuß­gän­ger­zone von Taksim, wird die Gruppe stetig größer, irgend­wann sind mehr als 20 Leute dabei. Vor einer Buch­hand­lung bleiben sie plötz­lich stehen und beginnen zu singen. Ein Mann, der hinter einem kleinen Tisch sitzt, steht auf und singt mit. Es ist Emrah Serbes, 32, ein berühmter tür­ki­scher Schrift­steller. Er schreibt hier heute Auto­gramme, und vor seinem Tisch hat sich eine hun­dert Meter lange Schlange seiner Leser gebildet. Serbes hat vor einiger Zeit auch das Dreh­buch zur TV-Serie Behzat Ç.“ ver­fasst.

Darin geht es um einen Poli­zisten, der nicht ins Bild der Erdoğan-Gefolgs­leute passt: Er trägt schul­ter­lange Haare, trinkt Bier und hat gele­gent­lich eine Affäre. Ein cooler Typ – aber eben kein Vor­zei­ge­po­li­zist. Serbes wurde in den ver­gan­genen Monaten immer wieder bedroht, von Poli­zisten oder von Erdoğan-Anhän­gern. Cem kennt seine Situa­tion, und des­wegen setzt sich der Abi nun neben seinen kleinen Bruder, wie ein Schutz­pa­tron. Schließ­lich legt er ihm einen Çarşı-Schal um, denn auch Serbes ist Mit­glied. Die Menge applau­diert. Cem lächelt.

Pfef­fer­spray ist das Parfüm des Jahres!

Es gibt viele Gezi-Bilder, die um die Welt gingen. Zum Bei­spiel das eines Jungen, der vor einer Poli­zei­hun­dert­schaft auf der Straße kniet und die tür­ki­sche Fahne hoch­streckt. Oder das der Frau im roten Kleid, die von einem Poli­zisten aus nächster Nähe mit einer Trä­nen­gas­pis­tole atta­ckiert wird. Drei Tage nach Beginn der Pro­teste sorgte auch ein Foto für Auf­sehen, das drei Fuß­ball­fans zeigt, einen von Gala­ta­saray, einen von Fener­bahçe und einen von Beşiktaş. Sie stehen gemeinsam auf der Bos­po­rus­brücke, und über dem Bild prangt der Slogan: Tayyip, do you know: Istanbul United“. Dazwi­schen klemmt ein Logo, das die Wappen aller drei Klubs ver­eint.

Istanbul United“ ver­brei­tete sich rasend schnell über die sozialen Netz­werke, und Erdoğan sah sich von den Fuß­ball­fans so weit in die Defen­sive gedrängt, dass er sich bei einer Ver­an­stal­tung vor einer Çarşı-Flagge pos­tierte. Es sollte so aus­sehen, als habe die Regie­rung die ver­meint­li­chen Unru­he­stifter auf ihre Seite gebracht. Allein, die Flagge war nicht echt. Um es sich mit seinen eigent­li­chen Anhän­gern nicht zu ver­scherzen, hatte Erdoğan das Anar­chie­zei­chen aus dem Çarşı-Logo ent­fernt.

Den­noch blieb eine der span­nendsten Fragen, wie sich dieses Gemein­schafts­ge­fühl des Som­mers auf die neue Saison über­tragen ließe.

Am Sams­tag­abend spielt Fener­bahçe gegen Siv­asspor. Vor dem Sta­dion wartet Murat Yilan. Ein schmaler Typ mit Locken­kopf, 24 Jahre alt, er spricht rasend schnell. Murat ist Fener­bahçe-Fan, seine Gruppe nennt sich Sol Açık, was so viel wie Links­außen“ bedeutet. Murat ist Kom­mu­nist und kann sich mit der United-Idee anfreunden. Er, der Fener­bahçe-Fan, sagt tat­säch­lich: Çarşı ist in meinem Herzen.“ Er blickt sich ein paar Mal ängst­lich um. Er fürchtet Ärger – von anderen Fener­bahçe-Fans.

34. Minute: Taksim-Rufe und Pfiffe gleich­zeitig

Im Gegen­satz zu Beşiktaş sind die Kurven von Fener­bahçe und Gala­ta­saray in poli­ti­sche Blöcke unter­teilt. Die wich­tigsten Fan­gruppen der Klubs, GFB und UltrAslan, unter­stützen Erdoğan. Füh­rende Mit­glieder der Gruppen ließen sich sogar mit Poli­zisten vor einer Wache ablichten. Ein anderes Istanbul United“. Viele deuten es als Schul­ter­schluss gegen alle Erdoğan-Gegner. Die Gala­ta­saray-Ultras ant­worten auf die Frage, was sie von Istanbul United“ halten, mit Skepsis und Ableh­nung. Es ist ein Mythos“, sagt ein füh­rendes UltrAslan-Mit­glied. Ein anderer sagt: Es ist beschä­mend.“

Fener­bahçe gewinnt am Abend 4:2. In der 34. Minute sind laute Taksim-Rufe zu hören, aber auch Pfiffe. Die linken Fan­gruppen der anderen Klubs sind zu schwach“, glaubt ein Çarşı-Mit­glied. Manche fürchten, der Frie­dens­ver­trag von 1997 könnte unter den jüngsten Gescheh­nissen zer­bre­chen. Ein­zelne Fan-Gruppen haben deut­lich Partei ergriffen, früher ging es ledig­lich um sozi­al­kri­ti­sche State­ments. Nun aber sieht man auf der einen Seite die Wider­ständler von Beşiktaş, auf der anderen die Pro-Erdoğan-Gruppen von UltrAslan und GFB. Dazwi­schen die klei­neren Anti-Erdoğan-Gruppen bei Fener­bahçe und Gala­ta­saray. Es ist eine hoch­ex­plo­sive Mischung.