Im Sommer 2013 führte die Besiktas-Fangruppe Carsi die Proteste im Istanbuler Gezi-Park an. Nun müssen ihre Mitglieder mit Haftstrafen rechnen – und setzen den friedlichen Widerstand in den Stadien fort.
Am kommenden Freitag endet der Prozess gegen 35 Fußballfans in der Türkei, darunter hauptsächlich jene der Besiktas-Fangruppe „Carsi“. Ihnen wird die „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ und „Putschversuch“ vorgeworfen. Auslöser war die Beteiligung der Gruppe an den Protesten im Gezi-Park 2013. Hier lest ihr unsere Vorort-Reportage, die im Oktober 2013 in 11FREUNDE erschien. Hier findet ihr ein aktuelles Interview mit dem Carsi-Anwalt Inan Kaya.
Als sich Cem Yakışkan am Morgen des 16. Juni 2013 auf den Weg zum Gezi-Park machen will, hat er keine Chance. Im Wohnzimmer der Familie Yakışkan stehen fünf Polizisten und richten ihre Gewehre auf ihn. Sein Sohn sitzt am Tisch, vor ihm die Hausaufgaben. Seine Frau steht in der Küche, vor ihr ein halbfertiges Frühstück. Beide weinen. „Darauf haben wir drei Wochen lang gewartet“, sagt einer der Polizisten.
Cem ist der Kopf der größten Beşiktaş-Fangruppe. Sie nennt sich Çarşı und war im Sommer dieses Jahres die treibende Kraft bei den Protesten gegen die türkische Regierung um Ministerpräsident Tayyip Recep Erdoğan. Als die Gruppe am 30. Mai 2013 die Barrikaden am Gezi Parkı erreichte, riefen die Demonstranten „Çarşı geliyor“, Çarşı kommt. Ihre Ankunft wirkte wie ein Fanal, ein Demonstrant sagte später: „Wenn mir etwas zustößt, dann gehe ich nicht zur Polizei, ich gehe zu Çarşı.“
Der Protest im Gezi-Park
Zu diesem Zeitpunkt war der Protest gerade mal zwei Tage alt, doch es ging schon längst nicht mehr nur um diesen Park, der zwischen den Stadtteilen Taksim und Beşiktaş liegt und auf dem die Regierung ein neues Einkaufszentrum errichten wollte. Gezi war in weniger als 24 Stunden zum Symbol des Widerstands geworden. Die Menschen demonstrierten gegen einen Ministerpräsidenten, der sich in den letzten zehn Jahren sukzessive von der Idee des Säkularismus entfernt hatte und der sich anschickte, aus der Türkei einen technokratisch-islamischen Staat zu machen.
Die Menschen protestierten gegen eine Politik der Repression. Das kürzlich verabschiedete Alkoholverbot nach 22 Uhr oder das angedachte Verbot von Küssen in der Öffentlichkeit standen exemplarisch dafür. Ungleich erschreckender war es für die Demonstranten allerdings, dass Erdoğan sich in jenen Tagen als autoritärer Herrscher präsentierte, der tausende Polizisten losschickte, um die Proteste niederzuknüppeln. Als die Menschen auf die Straße gingen, zeigten die Staatssender Dokumentationen über Pinguine oder Soap-Operas. Die Polizisten räumten den Park in der Nacht des 15. Juni.
Stunden später stehen sie in Cem Yakışkans Wohnzimmer, legen ihm Handschellen an und führen ihn ab. Zeitgleich stürmt die Polizei die Wohnungen von weiteren 20 führenden Çarşı-Mitgliedern. Der Protest soll im Keim erstickt werden.
Die Jungen vom Marktplatz
Um die Rolle von Çarşı während der Proteste zu verstehen, muss man die Geschichte der Beşiktaş-Fans kennen. Kaum einer weiß so gut über sie Bescheid wie Ekin Öksüz. Er ist Deutschland-Chef von Çarşı und ein Berg von einem Mann, 1,90 Meter, kurzrasiertes Haar, Oberarme wie Brückenpfeiler. Ende August sitzt er vor einer Dönerbude in der Nähe des Berliner Bahnhofs Zoo. Der 36-Jährige ist Mitte der Neunziger von Istanbul nach Berlin gezogen. Er wäre gerne in Taksim gewesen, er hätte protestiert, so wie er es früher getan hatte. Er sagt nun: „Der Widerstand wird in den Stadien weiterleben.“
Die Beşiktaş-Fans gerierten sich früher nicht explizit als politisch. In den siebziger und achtziger Jahren ging es vor allem darum, die Vormachtstellung im Istanbuler Stadtraum zu festigen. Sämtliche Derbys wurden damals im Inönü, der Heimspielstätte von Beşiktaş, ausgetragen. Die Fans übernachteten vor dem Stadion, um am Morgen die besten Plätze auf den Tribünen zu ergattern. Von 1978 bis 1982 verteidigten die Beşiktaş-Fans das Stadion so massiv, dass bei den Derbys angeblich kein einziger Anhänger der großen Stadtrivalen von Fenerbahçe oder Galatasaray hineingekommen ist. Bis zu diesem Zeitpunkt existierte Çarşı nur als eine lose Verbindung von Freunden. Wenn sie bei den Spielen oder den Kämpfen auftauchten, sagten die Alten: „Die Jungen aus Çarşı kommen“, die Jungen vom Marktplatz in Beşiktaş.
„Hast du schon einmal 200 Dönermesser im Nachthimmel blinken sehen?“
Die Kämpfe dauerten bis in die späten neunziger Jahre. Aus jener Zeit gibt es zahlreiche Fotos des jungen Ekin, auf einem posiert er mit einem Samuraischwert. „Da haben wir uns auf eine Derbynacht vorbereitet“, sagt er. Ein anderes Mal brachte ein Freund ein Rambomesser mit. Das war neu, doch ihre Gegner hatten längst andere Geschütze aufgefahren. „Hast du mal 200 Dönermesser im Nachthimmel blinken sehen?“, fragt Ekin. Wie viele Menschen in diesen Jahren bei den Kämpfen starben, kann niemand so genau sagen. Es heißt, dass 15 Personen der ersten Çarşı-Führungsriege nicht mehr am Leben und nur fünf eines natürlichen Todes gestorben sind.
Als Zäsur gilt ein Wintertag im Jahr 1997. Damals fuhr eine Autokolonne in Beşiktaş vor, aus den Wagen stiegen die Führungspersonen der Fenerbahçe- und Galatasaray-Fangruppen, um einen Waffenstillstand auszuhandeln. „So viele Tote, so viele Verletzte“, sagte einer der Galatasaray-Anführer. „Lasst es uns beenden!“ Er schlug vor, dass man bei den Spielen einander fortan mit Tee und Gebäck empfangen und die Rivalität nur noch während der 90 Minuten ausleben solle – ohne Gewalt, aber natürlich mit Schmähgesängen. Die anderen Gruppen waren einverstanden, es kam zum Istanbuler Friedensabkommen.